Verlorene Illusionen

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Ein stürmischer Nachwuchsdichter vom Land sucht sein literarisches Glück in Paris – und wird Teil eines Intrigenspiels aus Lug und Trug. Mit „Verlorene Illusionen“ legt Regisseur Xavier Giannoli die erste Spielfilmadaption des Romans von Honoré de Balzac vor, der um 1840 entstanden ist. Der Film kommt zur passenden Zeit, immerhin weist die vom Nationalautor Balzac auf die Phase der Restauration im 19. Jahrhundert gemünzte Medien- und Gesellschaftskritik viele aktuelle Bezüge auf. Uraufgeführt wurde das unterhaltsame Historiendrama beim 78. Filmfestival von Venedig.

Webseite: cinemien.de/film/verlorene-illusionen

Illusions perdues
Frankreich 2021
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Jacques Fieschi, Xavier Giannoli
Darsteller: André Marcon, Benjamin Voisin, Cécile de France, Gérard Depardieu, Jean-François Stévenin, Jeanne Balibar, Salomé Dewaels, Vincent Lacoste, Xavier Dolan

Laufzeit: 149 Min.
Verleih: Cinemien
Kinostart: 1. Dezember 2022

FILMKRITIK:

Im Paris des frühen 19. Jahrhunderts will der junge Schöngeist Lucien Chardon Dichter werden. Die Kunstmäzenin de Bargeton, mit der er eine Affäre hatte, führt den Apothekersohn als „de Rubempré“ in die feine Gesellschaft ein. Als seine bürgerliche Herkunft ans Licht kommt, wird Lucien fallengelassen. Schnell lernt er, wie man sich in der Stadt über Wasser hält. Tinte und Feder werden seine Waffen, aber nicht als Poet, sondern als Feuilletonist. Lucien heuert bei einer der kuriosen Klatschgazetten an, die ein profitgieriges Dickicht bilden. Mit boshaften Glossen und Kritiken pflegt er Allianzen und Feindschaften, wird Teil des Spektakels und vergisst seine eigentliche Ambition.

Der dreiteilige Roman „Illusions perdues“ von Honoré de Balzac übt schillernde Kritik an der nachrevolutionären Pariser Gesellschaft. Royalisten und Liberale ringen um die Macht, Glückssucher streben nach Erfolg. Im Taumel aus Schein und Sein kommen und gehen die Moden, Gerüchte, Lügen und Skandale. Das teils frei adaptierte Drehbuch von Jacques Fieschi und Xavier Giannoli nimmt sich eine gute Stunde Zeit, um die Lebenswelt einzuführen. Der Protagonist ist vorerst auf die Rolle des Zuhörers beschränkt, wenn ihm etwa der Redakteur Etienne die Spielregeln erklärt. Dann ergreift er die Initiative, will „diese Welt an der Kehle packen und sie auf den Boden zwingen.“ Auch die Liebe der angehenden Schauspielerin Coralie befriedet ihn nicht.

Selbst wenn man nicht wüsste, dass „Verlorene Illusionen“ eine Literaturadaption ist – dem Film ist die gedruckte Verwandtschaft klar anzumerken. Xavier Giannoli setzt romanhaft erzähltes Ausstattungskino in Szene, bei dem die geschmackvollen Bilder von Christophe Beaucarne („Auguste Rodin“) den puren Inhalt hofieren. In steter Regelmäßigkeit kommentiert ein Erzähler das Geschehen aus dem Off, liefert pointierte Hintergründe, stellt Figuren vor oder bewertet Entwicklungen. In filmischer Hinsicht ist „Verlorene Illusionen“ ein solider Historienfilm mit Tanzabenden, Kutschfahrten und frohlockendem Score. Nur vereinzelt setzt Giannoli Akzente wie die vergleichsweise freizügige Erotik. Ins Positive gewendet lenkt die Inszenierung nicht vom Stoff ab – und der hat es durchaus in sich.

Die Gesellschaftskritik ist bissig und beschwört Bezüge zur Klatschpresse, zu Medienkampagnen und Entrüstungsstürmen der Gegenwart. Das Pariser Verlags- und Pressewesen ist hier eine einzige Farce. Der durch neue Druckverfahren angefachte Meinungskampf weckt Begehrlichkeiten, man ist korrupt und stolz drauf. Schnell kriegt Lucien mit, wie man die Francs „einstreicht“, fast alles ist käuflich. So ruft die Theaterkonkurrenz bezahlte Claqueure auf den Plan, die wahlweise Blumensträuße oder Tomaten werfen; auch Schauspielerinnen entrichten „Reputationskosten“. Viele profitieren vom Schmierentheater. Ohne Kontroverse lasse sich nichts verkaufen, meint ein von Gérard Depardieu gespielter Verleger, der zwar nicht lesen kann, aber versilbern. Die Zeitungsleute hinterfragen die Zustände nicht, sondern feiern sie. „Im Namen des bösen Glaubens, des falschen Gerüchts und der heiligen Werbeanzeige“ wird Lucien zum Journalisten gekürt und in der Redaktion „entscheidet“ ein Kapuzineräffchen, welche Bücher mit einer Besprechung geadelt werden. Das vor dem Abspann ausgerufene Ideal eines unbestechlichen Journalismus war nie und wird niemals ein Selbstläufer sein.

Mitunter regt sich ein Gewissen, die Sehnsucht, ein Werk von Dauer zu verfassen – und nicht nur schnelle Aufreger für Blätter, in die tags drauf Fisch eingewickelt wird. „Aus Respekt vor der Literatur“ schreibt Lucien einmal eine aufrichtige Rezension. Am Ende ist er desillusioniert. Und das Publikum daran erinnert, dass manch heutige Übel wie Fake News oder Hate Speech so ähnlich längst dagewesen sind.

 

Christian Horn