Vertraute Fremde

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Es muss nicht immer Super-, Bat- und Spider-Man sein. Comic-Verfilmungen können auch ganz ohne Effekt-Getöse und Superhelden auskommen: als poetisches Zeitreise-Märchen über ein Vater-Sohn-Verhältnis und die erste Liebe. Sam Garbarski, der mit seiner umwerfend komischen „Irina Palm“ einst einen Publikumsliebling der Berlinale zauberte, wagt nun die europäische Umsetzung des mehrfach ausgezeichneten Manga-Comics von Jiro Taniguchi. Der Plan gelingt, die universelle Geschichte funktioniert bestens auch im hiesigen Kulturkreis. Erzählt wird vom Comiczeichner Thomas, den es durch Zufall in den Ort seiner Kindheit verschlägt. Auf wundersame Weise findet er sich plötzlich in der Vergangenheit wieder und erlebt als 14jähriger seine Jugend nochmals neu – freilich mit dem Wissen eines Erwachsenen. Einfühlsam inszeniert und mit überzeugenden Akteuren gelingt ein charmant surreales Drama der sympathisch sensiblen Art: Wer würde nicht einmal gerne auch so einen kleinen Ausflug zurück in die Jugend machen?

Webseite: www.x-verleih.de

Originaltitel: Quartier Lointain
Belgien, Luxemburg, Frankreich, Deutschland 2010
Regie: Sam Garbarski.
Drehbuch: Sam Garbarski, Jérome Tonnerre, Philippe Blasband.
Vorlage: Jiro Taniguchi
Darsteller: Pascal Gréggory, Alexandra Maria Lara, Jonathan Zaccaï, Léo Legrand, Laura Moisson
Laufzeit: 100 Minuten
Verleih: X-Verleih
Kinostart: 20.5.2010
 

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

„Es war ein Tag wie jeder andere“, mit der Erzählerstimme aus dem off, wie einst beim guten alten „Tom Sawyer“, macht der Held den Zuschauer gleich zu Beginn zum Komplizen. Familienvater und Comiczeichner Thomas reist per Bahn zu einer Cartoon-Messe. Reine Routine, ein neues Werk hat der Künstler nämlich nicht im Gepäck, sehr zur Enttäuschung eines Fans. Lustlos macht sich Thomas auf den Rückweg. Als er vom Schaffner geweckt wird, findet er sich im falschen Zug wider. An der nächsten Station steigt er aus, die nächste Bahn nach Paris fährt jedoch erst sechs Stunden später. Die Wartezeit zu einem Spaziergang nutzend, stellt Thomas fest, dass er geradewegs im Ort seiner Kindheit gelandet ist. Er trifft seinen alten Schulfreund wieder, besucht das Grab der Mutter – und wird auf dem Friedhof ohnmächtig. „War das ein Traum?“ fragt die Erzählerstimme. Denn plötzlich findet sich der Held als 14jähriger Schüler wieder – freilich mit dem Wissen des Erwachsenen. Dass sein Vater damals am Abend seines 40sten Geburtstags verschwand, traumatisierte die ganze Familie. Nun hat Thomas die Chance, die Gründe dafür herauszufinden, das Rad der Geschichte vielleicht sogar umzulenken. Immer mehr Geheimnisse tun sich auf: Der mysteriöse Anruf einer Frau. Vaters heimlicher Kauf von Schmuck und 4711. Omas Enthüllung aus der Kriegsvergangenheit.

Dank neuem Selbstbewusstsein macht Thomas den autoritären Lehrern das Leben schwer, legt bei seiner ersten großen Liebe (fast) die Schüchternheit von damals ab und holt Gespräche mit seine Eltern nach, die er früher nie führte. „Hättest du gern ein anderes Leben geführt“ will er vom verblüfften Vater beim Angeln wissen während er die nicht minder verdutzte Mutter (großartig: Alexandra Maria Lara) zu mehr Spaß im Alltag verführt. Bei aller Ernsthaftigkeit fehlt nie die Leichtigkeit. Da sagt der Zeitreisende den Fall der Mauer voraus oder überrascht die Bardame, whiskyschlürfend, mit der Aussage, dass er schon zwei Kinder hätte.

Wie zu erwarten wird Thomas den Lauf des Schicksals nicht verändern können – aber durch die Konfrontation mit den Konflikten seiner Kindheit wird er sich viel klarer über die eigene Rolle als Familienvater klar.

Garbarski entwickelt seine surreal anmutende Vater-Sohn-Geschichte spannungsreich mit hübschen Wendungen und geschickt eingestreuten Geheimnissen. Die als Comic geborenen Figuren funktionieren auch auf der Leinwand bestens und bleiben alles andere als eindimensional. Die halbe Miete sind dabei die überzeugenden Akteure: Der junge Léo Legrand, der all die grässlich altklugen Hollywood-Kids gekonnt in den Schatten stellt. Und seine Eltern Alexandra Maria Lara und Jonathan Zaccaï, die gleichfalls auf ein unaufdringliches weniger-ist-mehr setzen. Wer genau hinschaut wird am Ende auch Jiro Taniguchi mit einem Gast-Auftritt entdecken. Ihm hat die europäische Adaption offensichtlich gut gefallen.

Dieter Oßwald

Der Comic-Zeichner Thomas Verniaz, der mit Frau und Kindern in Paris lebt, macht sich per Zug auf zu einer Comic-Messe in der Provinz. Auf dem Nachhauseweg steigt er in den falschen Zug. Der bringt ihn nicht zurück in die Hauptstadt, sondern in eine kleine Stadt nahe den Bergen. Es ist der Ort, an dem Thomas seine Kindheit verbracht hat. Er geht auf den Friedhof, um das Grab seiner Mutter zu besuchen.

Plötzlich kippt er um, wird ohnmächtig. Wie im Traum kehrt er jetzt in seine Jugend zurück. Er ist 14, sein Zustand gleicht einem visionären Doppelleben. Seine Mutter spürt das seltsame Verhalten, das anders ist als gewohnt.

Thomas erlebt seine Vergangenheit noch einmal – bewusster. Er ist netter zu seiner Schwester Corinne, beredet alles mit seinem Freund Rouseau, verliebt sich in Sylvie – und sieht voraus, dass der Vater die Familie für immer verlassen wird. Wird er das verhindern können?

Sam Garbarski ist der Regisseur von „Irina Palm“ sowie von „Der Tango der Rashevskis“. Hier legt er einen Film vor, der nicht leicht zu erschließen ist. Es geht um die Wiederbegegnung mit der Vergangenheit und die Erkenntnis, wie sie eventuell hätte anders erlebt oder gestaltet werden müssen. Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern spielen eine wichtige Rolle. Und es geht auch um die Frage, wie weit Menschen etwas vorausahnen können, also um den Übergang von der realen in die irreale Welt.

Ruhig und verhalten im gut getroffenen Stil der 60er Jahre ist Thomas’ Lebenswiederholung, das Fortgehen des Vaters, dessen Verhinderung er als Aufgabe für sich begriff, sowie die Psychologisierung des Ganzen gestaltet. Man muss aber Zugang dazu finden. Garbarski hat hier auf einer ganz anderen, ungleich diffizileren Ebene gearbeitet als beispielsweise bei „Irina Palm“.

Beachtlich, wie der junge Leo Legrand seine Rolle als Jugendlicher Thomas meistert. Auch Pascal Greggory als der erwachsene Thomas beeindruckt. Blasser bleiben Jonathan Zaccai als Bruno der Vater sowie erstaunlicherweise Alexandra Maria Lara als Mutter.

Thomas Engel