Vienna Calling

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Vienna Calling, das bedeutet vor allem: Wien ruft sich selbst. Die österreichische Hauptstadt verfügt über eine der individuellsten, vielfältigsten und tolerantesten Musikszenen des 21. Jahrhunderts. Und das ganz ohne Chichi und großes Tamtam, denn Wien ist aufregend, ohne aufgeregt zu sein. Wer das schon weiß, wird sich in diesem Film pudelwohl fühlen. Wer es noch nicht weiß, wird angenehm überrascht werden. Und wer sich allgemein für moderne Pop-Musik interessiert, wird „Vienna Calling“ lieben, weil er in die kunterbunte, spannende Musikszene einer ganzen Stadt eintaucht.

Webseite: https://mindjazz-pictures.de/

Dokumentarfilm
Deutschland/Österreich 2023
Drehbuch und Regie: Philipp Jedicke
Mit: Voodoo Jürgens & Ansa Panier, Der Nino aus Wien, Lydia Haider, EsRaP, Gutlauninger, Stefanie Sargnagel, Kerosin95, Samu Casata, Stefan Redelsteiner, ZINN Kamera: Max Berner
Musik: Paul Gallister

Länge: 85 Minuten
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 16. November 2023

FILMKRITIK:

Understatement und Schmäh – das sind vielleicht die herausragendsten Kennzeichen der neuen Wiener Musikszene. Nicht von ungefähr erinnert der Titel an „London Calling“ von „The Clash“, das als eins der einflussreichsten Alben der Rock-Geschichte gilt. Die schroffe und gleichzeitig verführerische Musik von Clash war Faszination und Widerspruch zugleich. Aber was steckt hinter der Idee zu „Vienna Calling“, außer dass der Titel an The Clash erinnert sowie – wahrscheinlich noch stärker – an den gleichnamigen Falco-Hit, der wiederum The Clash zitiert.

Die Antwort lautet: vermutlich alles und nichts, denn die Wiener Musikszene lässt sich nur schwer fassen und einordnen. A bisserl Größenwahn ist vermutlich auch noch dabei, denn neben dem Understatement ist die Koketterie mit der eigenen Hybris eines der herausragendsten Kennzeichen der Protagonisten dieses Films, die sich selbst irgendwie niemals allzu ernstnehmen möchten und trotzdem ernsthaft wirken. Vor allem wissen sie, wo es langgeht. Das gilt für das Geschwisterpaar EsRaP ebenso wie für die Schriftstellerin und Performerin Lydia Haider, für Voodoo Jürgens, der sich dem halbseidenen Milieu der Wiener Strizzis und Strawanzer verschrieben hat, oder für Gutlauninger, der in seinem Outfit an den großen Falco selbst erinnert, für den Nino aus Wien, Stefanie Sargnagel, Kerrosin 95 und wie sie alle heißen. Auf den ersten Blick alles schräge Vögel, die Musik für und wider den Zeitgeist machen. Das ist dann oft sehr witzig, doch wer sie nicht ernstnimmt, unterschätzt diese jungen Künstlerinnen und Künstler sträflich. So vielseitig sie sind, so unterschiedlich sind auch ihre Ansprüche, aber letztlich sind sie alle mit großer Ernsthaftigkeit dabei, auch wenn ihre Auftritte leichtfüßig daherkommen.

Bemerkenswert ist das Selbstvertrauen, mit dem sie in „Vienna Calling“ vor die Kamera treten und sich selbst spielen. Mal auf der Straße, mal in der Großstadtbrache oder in kleinen und größeren Konzerthallen. Hier sind keine Nachwuchskräfte am Werk, die auf Teufel komm raus berühmt werden wollen, stattdessen erleben wir Musikerinnen und Musiker, die sich ihrer Sache sicher sind und sich mit gelassener Souveränität und Selbstironie als Teil einer versponnenen, poetischen Musikszene präsentieren, die zurzeit vermutlich einmalig auf der Welt ist. Zum Charme der Performance gehört auch oft das konsequente Bekenntnis zum Wiener Dialekt.

Philipp Jedicke, bekennender Wien- und Underground-Fan, dreht in seinem Film Ellipsen um das heimliche Zentrum des Films, das Szenelokal Schmauswaberl, das seine Relevanz für die Wiener Szene gerade dadurch unterstreicht, dass es sie heftig leugnet. Er zeigt seine Protagonisten in einer Stadt voller Widersprüche, die nichts mehr von der Walzerseligkeit vergangener Zeiten hat oder zu haben glaubt und deren Schicksal es vermutlich ist, auf ewig mit Klischees zwischen Schnitzel und Kaiserschmarren, Sissi und Prater verbunden zu werden. Ihre junge Musik fügt sich nahtlos ein in eine zerrissene, unberechenbare Welt voller Rätsel, die entdeckt werden will und doch immer irgendwie vertraut wirkt. Wien eben.

 

Gaby Sikorski