Voll ins Leben

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Mit der skurrilen und grundsympathischen Provinzkomödie „Willkommen bei den Sch’tis“ begann für den Schauspieler und Filmemacher Dany Boon der große Aufstieg. Heute gehört er weltweit zu den bekanntesten Kinogesichtern Frankreichs und legt alle paar Jahre eine neue Regiearbeit vor. Der jüngste Streich hört hierzulande auf den Namen „Voll ins Leben“ und vereint Boon vor der Kamera zum wiederholten Mal mit Kad Merad, der schon im oben erwähnten Sensationserfolg zu sehen war. Beste Voraussetzungen also für einen weiteren spaßigen Hit? Eher nicht! Vielmehr muss sich das Publikum auf simpel gestrickten Klamauk und eine völlig überkonstruierte Geschichte einstellen.

Webseite: https://www.leoninedistribution.com/filme/166992/voll-ins-leben.html

La vie pour de vrai
Regie: Dany Boon
Drehbuch: Dany Boon
Darsteller: Dany Boon, Kad Merad, Charlotte Gainsbourg, Maxime Gasteuil, Caroline Anglade, Aurore Clément, Gaël Raës u. a.

Länge: 110 Minuten
FSK: 12
Verleih/Vertrieb: Leonine Studios
Kinostart: 14.09.2023

FILMKRITIK:

Los geht es allerdings noch recht vielversprechend mit Amateurbildern, die im Kurzdurchlauf den Weg der Hauptfigur beschreiben: Geboren wurde Tridan Lagache (Dany Boon) in einer mexikanischen Ferienanlage des (real existierenden) französischen Reisekonzerns Club Med, da seine Eltern – so zeigen es die ausgelassen-hippiesken Aufnahmen – eben dort beschäftigt waren. Sein ganzes Leben verbringt er in dem Resort, verlässt nie wirklich dessen Mauern und muss folglich ständig neugewonnene Freunde wieder gehen lassen. Für andere ist es ein Urlaub, für ihn der Alltag. Als er jedoch mit 50 Jahren auf der Bühne erschöpft zusammenbricht, zieht Tridan einen Schlussstrich, verlässt den Club und damit seine Heimat.

Etwas willkürlich wirkt dabei die Motivation für einen Trip nach Paris, die er seiner Mutter (Aurore Clément) präsentiert. Um jeden Preis möchte Tridan Violette Charmet, seine große Liebe aus Kindheitstagen, finden, die er offenbar nie vergessen konnte. Spätestens mit Beginn der Reise zeigt sich, in welcher Blase der Protagonist die ganze Zeit gelebt hat. Ständig kommt es zu Missverständnissen, weil ihm die Welt da draußen fremd ist, er mit manchen eigentlich selbstverständlichen Dingen nichts anzufangen weiß. Die All-inclusive-Mentalität seines Clubs etwa trägt er immer mit sich herum, wenn er in der Seine-Metropole ein Restaurant besucht. Aus der Tatsache, dass er gehen will, ohne zu bezahlen, macht der Film einen Running Gag, der sich trotz zwischenzeitlicher Abwechslung ein wenig totläuft.

Seine Figur zeichnet der auch für das Drehbuch verantwortliche Dany Boon als einen liebenswerten Naivling, einen hoffnungslosen Romantiker, der im Großstadttrubel nach etwas Herzlichkeit sucht. Sein recht expressives Spiel, das oft weltfremde Benehmen Tridans, seine Minipli-Frisur und sein eher eigenwilliger Kleidungstil verleihen dem ehemaligen Club-Bewohner einen comichaften Anstrich, lassen ihn nicht so sehr wie einen Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen.

Das genaue Gegenteil des lächelnden, freundlichen Paris-Touristen ist sein miesepetriger, ihm bislang unbekannter Halbbruder Louis (Kad Merad), der im Apartment ihres verstorbenen Vaters lebt. Die Wohnung mit Tridan zu teilen, darauf hat der selbstständige Taxifahrer keine Lust. Und so heckt er auf Umwegen ein fragwürdiges Komplott aus: Seine Gelegenheitsaffäre Roxane (Charlotte Gainsbourg) soll sich als Violette ausgeben, Tridan freundlich, aber entschieden klarmachen, dass sie nicht zusammen sein könnten, und ihn auf diese Weise wieder zur Abreise bewegen. Ein Plan, der natürlich schiefgeht.

Es gibt sie, kleine, schöne Momente, in denen „Voll ins Leben“ Wärme ausstrahlt. In Erinnerung bleibt vor allem eine Szene in der Pariser U-Bahn, wo Tridan mit einer Ansprache und netten Gesten im Alltagstrott für eine kurze Pause, ein Innehalten sorgt. Augenblicke wie dieser beweisen, dass mehr in unserem Protagonisten steckt als ein Kasper, der weltfremd durch die Gegend stolpert, um einer Kindheitsillusion nachzujagen. Boon jedoch ist mehr daran interessiert, eine unglaubwürdige Verwicklungsdramaturgie mit romantischem Anstrich ins Rollen zu bringen. Am meisten leidtun kann einem dabei Charlotte Gainsbourg, die in der undankbaren Rolle eines Spielballs verharrt. Mal kommt Roxane völlig einfältig rüber, dann wieder demonstriert sie erstaunliche Reflexionsfähigkeit. Gerade so, wie es das Drehbuch in den jeweiligen Situationen braucht. Eine konsistent geschriebene Figur sieht definitiv anders aus!

Formelhaft, ohne großen Charme und echte Raffinesse spult Boon seine filmische Klamotte in der zweiten Hälfte ab und überschreitet ein ums andere Mal die Grenze zur Lächerlichkeit. Absurd, allerdings nicht im positiven Sinne, ist zum Beispiel das aus Tridans Kindheit stammende Bustrauma, das in Paris irgendwann aus ihm herausbricht. Schrecklich überzogen wirkt auch der Nebenstrang um Louis‘ Sohn Yohan (Marin Judas), der ein gewaltiges Aggressionsproblem hat und im Scheidungskrieg seiner Eltern klar auf der Seite seiner Mutter steht. Einziger Zweck dieses Subplots ist es, dem unsympathischen, einige misogyne Beschimpfungen von sich gebenden Louis trotz allem einen versöhnlichen Abschluss zu spendieren. Eine Idee, die genau so schal schmeckt wie die Liebe, die uns „Voll ins Leben“ am Ende als tief und innig verkaufen will.

 

Christopher Diekhaus