Voll und ganz und mittendrin

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Der Schlaganfall eines jungen Familienvaters stellt das Leben seiner Liebsten auf den Kopf. Was im ersten Moment nach Betroffenheitskino klingt, ist ein authentischer, durchaus optimistischer Film über Beziehungen, der Sentimentalitäten weitgehend vermeidet. Vor der Kulisse der rauen irischen Landschaft erzählt Regisseurin Steph Green (Oscar-nominiert für den Kurzfilm „Der Neue“) mit viel Fingerspitzengefühl von einer besonderen Dreiecksbeziehung, in der nicht zuletzt die Darsteller glänzen. Ein Geheimtipp des europäischen Independentkinos.

Webseite: www.vollundganzundmittendrin.senator.de

OT: Run & Jump
IRL/D 2013
Regie: Steph Green
Drehbuch: Ailbhe Keogan, Steph Green
Darsteller: Maxine Peake, Will Forte, Edward MacLiam, Ruth McCabe, Michael Harding, Brendan Morris
Laufzeit: 102 Minuten
Verleih: Senator
Kinostart: 5.9.2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Am Begin von „Voll und ganz mittendrin“ steht das Klischee. Die ersten Aufnahmen zeigen Irland, wie man es aus unzähligen Reiseberichten und Filmen kennt. Malerische Dörfer, grüne Wiesen, dazu eine gleichermaßen raue wie faszinierende Landschaft. Hier leben die Caseys, eine Familie, die in diesem Postkarten-Idyll nach einem Neuanfang sucht. Vater Conor (Edward MacLiam) ist seit einem Schlaganfall scheinbar ein anderer Mensch. Seine Persönlichkeit ähnelt plötzlich mehr der eines launigen und manchmal bockigen Kindes. Statt mit seiner Frau Vanetia (Maxine Peake) und den beiden Kindern Zeit zu verbringen, zieht er sich lieber in seine Werkstatt zurück. Doch auch dort ist er fast ständig unter Beobachtung. In diesem Fall ist es die Kamera eines amerikanischen Neuropsychologen, die ihn und sein Verhalten für Studienzwecke dokumentiert. Ted (Will Forte) will Conors Krankheitsverlauf und seine Reintegration in den Familienalltag für zwei Monate als stiller Beobachter begleiten.

Tatsächlich versucht Ted, die ihm zugedachte Rolle des neutralen Wissenschaftlers strengstmöglich einzuhalten. Das gelingt zunächst, wobei gleichzeitig die Distanz zwischen ihm und der Familie trotz aller Anstrengungen Tag für Tag ein Stückchen kleiner wird. Vor allem zu Vanetia und Sohn Lenny (Brendan Morris), der an den Problemen der Pubertät zu verzweifeln droht, entwickelt Ted schon bald eine freundschaftliche Beziehung. Ohne aufdringliche Sentimentalitäten oder die für das Genre üblichen Tricks vermittelt Regisseurin Steph Green diesen Wandel im Verhältnis zwischen beiden Seiten. Intuitiv verschieben sich hier die Perspektiven und Sichtweisen. Irgendwann ist Ted kein auf Neutralität bedachter Gast mehr sondern „Voll und ganz mittendrin“.

So wie dieses Familienportrait gerade auf die leisen Töne vertraut, so konzentriert sich das Drehbuch von Ailbhe Keogan und Steph Green auf kleine Alltagsbeobachten und Gesten. Der Zauber liegt hier in dem, was nicht offen ausgesprochen und doch von jedem verstanden wird. Selbst Schicksalsschläge, die auf die Caseys warten, arbeitet Green bemerkenswert sicher in die überaus intime, in Teilen auf persönlichen Erlebnissen ihrer Co-Autorin Ailbhe Keogan beruhende Geschichte ein. Das absehbare Liebes- und Gefühlswirrwarr, in dem sich Ted und Vanetia wiederfinden, nutzt der Film gleich für mehrere wunderbare Momente, die weniger auf Kitsch als auf Natürlichkeit und Nähe beruhen. Dabei gebührt nicht zuletzt den Darstellern ein großes Kompliment. Maxine Peake und ihr Filmpartner Will Forte meistern die Klippen dieser so schüchternen Liebe geradezu bravourös. Teds Verwandlung vom „Außerirdischen“ zu einem Menschen, der bereit ist, seine Gefühle zu offenbaren, wird in Fortes Händen zu einem kleinen Juwel der Schauspielkunst.

Obwohl Greens Film vor Konflikten keinen Rückzieher macht, ist sein Grundton durchaus optimistisch und lebensbejahend. Tatsächlich lassen sich im Verlauf dieser 100 Minuten ganz unterschiedliche Empfindungen und Empfindsamkeiten entdecken. Manche wechseln so schnell wie das raue irische Wetter. Dank Greens Augenmerk für das Authentische fühlt sich dieser Blick auf eine Familie, die vor einem fundamentalen Neustart steht, aber jederzeit ehrlich und ungeschliffen an. Ihr intimes Portrait, das aufgrund der offenen und unverkrampften Auseinandersetzung mit einer weit verbreiteten Krankheit berührt, überzeugt zudem als humorvolles Plädoyer für das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen.

Marcus Wessel

Die Caseys waren eine ganz normale Familie: Conor, der Vater, Vanetia, die Mutter, dann die beiden Kinder Lenny und Noni.

Das Unglück bricht herein, als Conor einen Schlaganfall erleidet. Er kommt aus der Klinik völlig verändert zurück. Seinem Drechsler-Beruf geht er zwar weiterhin nach, und zwar durchaus erfolgreich. Doch das sonstige Verhalten ist kindisch, störrisch unberechenbar bis zur Gewalt.

Vanetia muss damit leben. Sie ist eine lebensfrohe, kluge, im Alltag geschickte Frau. Aber jeder Kontakt zu ihrem Mann läuft ins Leere. Immer wieder.

Der amerikanische Wissenschaftler Dr. Ted Fielding will Conors atypischen Zustand erforschen. Für einige Wochen wird er dazu im Haus der Caseys wohnen.

Lenny steckt in der Pubertät. Seine sexuelle Orientierung ist noch ungewiss. Er versucht es mit Pillen. Conors Vater Paddy will seinen kranken Sohn positiv beeinflussen, stellt es jedoch völlig falsch an.

Also lebt Vanetia mit einem kranken und einem kranken und einem gesunden Mann zusammen. Klar, dass da Gefühlsregungen auftreten, die eingeordnet werden müssen. Denn Ted ist wochenlag da und Conor wochenlang unfähig. Die Balance zu halten fällt nicht leicht. Manchmal schwappt das Verlangen über, manchmal ist die Sensibilität auf null. Das Alltägliche sorgt dafür, dass es nicht zu Extremem kommt.

Vanetia muss sich früher oder später entscheiden. Sie tut es. Denn sie hat Conor einst die Treue geschworen.

Handlungsmäßig geschieht nicht viel, psychologisch dafür umso mehr. Der Regisseurin ist eine realistische und in vielem plausible Zustandsbeschreibung gelungen. Kein eigentliches Drama, sondern ein Psycho-Stück.

Gelungen ist das weitgehend durch Maxine Peakes Spiel als Vanetia. Sie wirkt ausgelassen, nachdenklich, unentschlossen, fröhlich, traurig – und jede dieser Nuancen bringt sie echt zum Ausdruck.

Nuanciert agiert auch der Darsteller des Ted, Will Forte. Schließlich der Dritte im Bunde der renommierten irischen bzw. britischen Darsteller: Edward McLiam als Conor.

Thomas Engel