Vortex

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Das Enfant terrible der internationalen Filmkunst, Gaspar Noé, der sein Publikum bisher vor allem mit Sex, Drogen und Gewalt zu schockieren pflegte – siehe CLIMAX (2018) – erweist sich hier als einfühlsamer Chronist und Beobachter, der ein altes Ehepaar über die letzten gemeinsamen Wochen begleitet. Dabei erschafft Noé zusammen mit seinen beiden Stars Françoise Lebrun und Dario Argento eine unvergleichlich melancholische Stimmung, die er mit ungewöhnlichen filmischen Mitteln zu einer ebenso schonungslosen wie einprägsamen Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit allen Seins steigert. Sicherlich kein leichter Film, aber eine absolut bereichernde Erfahrung von starker, geradezu magischer visueller Ausdruckskraft.

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Frankreich 2021
Buch und Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Françoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz, Kylian Dheret
Kamera: Benoît Debie
135 Minuten
Verleih: rapid eye movies
Kinostart: 28. April 2022

FILMKRITIK:

Eine Widmung steht über dem Film, der – wie üblich bei Gaspar Noé – mit dem Abspann beginnt: „Für alle, deren Gehirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz.“ Vom blauen Himmel herab blickt die Kamera auf die Dächer einer Stadt. Ein altes Ehepaar begegnet sich über den Lichthof hinweg an gegenüberliegenden Fenstern „Es ist alles bereit“, sagt sie. Sie lächeln sich an, schließen die Fenster und gehen auf ihre kleine, begrünte Dachterrasse, wo der gedeckte Frühstückstisch auf sie wartet. „Ist das Leben nicht wie ein Traum?“ fragt sie. „Das Leben ist ein Traum in einem Traum“, sagt er. Sie seufzt ganz kurz, dann stoßen sie miteinander an. „Auf uns!“ Die Kamera zieht sich zurück und wendet sich einer Mauer zu, auf der die Namen und Geburtsjahre der Beteiligten erscheinen, während ein Chanson von und mit der jungen Françoise Hardy beginnt. Sie singt „Mon amie la rose“ („Meine Freundin, die Rose“); ein wunderschöner, herzzerreißender Text erzählt vom Tod der Schönheit und von der Vergänglichkeit. Das Bild wechselt zu dem alten Paar. Sie liegen gemeinsam im Ehebett, er schläft, sie wacht auf, den Arm auf seiner Schulter. Ein schwarzer Strich beginnt das Bild zu teilen, bis er an ihrer Hand ankommt. Sie zieht die Hand zurück. Das Bild teilt sich komplett. Ab jetzt hat jede der beiden Hauptperson eine eigene Bildhälfte und eine eigene Kamera. Der Split Screen teilt die Leinwand und ihrer beider Leben. Später werden sie sich ab und an begegnen, doch die Perspektive ist jeweils unterschiedlich. Es gibt kein gemeinsames Leben mehr, sagen diese Bilder, es gibt nur noch zwei Individuen, die jeweils für sich selbst dem Ende entgegenstreben.

Die Handlung ist prinzipiell schnell erzählt, sie spielt sich innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten ab – Zeit spielt keine Rolle mehr für diese Frau und diesen Mann, die einmal miteinander glücklich waren und in einer riesigen, verschachtelten Wohnung mitten in Paris leben, die vollgestopft ist mit Erinnerungen, Möbeln, Büchern und Zeitschriften. Beide sind um die 80 und gehen erkennbar auf den Verlust ihrer Autonomie zu. Sie ist eine ehemalige Ärztin, die von Tag zu Tag dementer wird. Er ist ein noch immer aktiver, aber schwer herzkranker Filmjournalist, der täglich auf der Schreibmaschine an einem Buch über die Träume und das Kino arbeitet. Ihr Sohn, Stéphane, besucht sie gelegentlich mit Kiki, dem Enkelkind. Er weiß, was los ist, und er macht sich große Sorgen. Er tut, was er kann, aber er kann ihnen nicht helfen, weil sie sich gegen jede Art der Hilfestellung wehren. Seine Eltern wollen ihre Wohnung nicht verlassen. Es scheint, als würden sie auf die absehbare und nicht aufzuhaltende Katastrophe warten, die dann tatsächlich eintritt. Der Film endet mit Fotos von der Wohnung in unterschiedlichen Stadien der Räumung und Entrümpelung. Am Ende steht wieder der blaue Himmel vom Anfang. Möglicherweise versteckt sich hinter Gaspar Noés schmerzlich realistischem Blick auf das Lebensende der Aufruf, sich nicht unterkriegen zu lassen. Vielleicht möchte er daran erinnern, dass wir alle vom Wissen um den Tod umgeben sind und gerade daraus unser Lebensgefühl beziehen sollten. Oder anders gesagt: Er wünscht sich mehr Hoffnung. Man weiß es nicht. Eigentlich hält sich Gaspar Noé weder mit Pessimismus noch mit Optimismus auf. Er zeigt das Ende einer Party, die kurz und schön war. Und nun ist sie vorbei.

Es ist ein unbequemer Film, den Gaspar Noé in kürzester Zeit erdacht, aufgeschrieben und gedreht hat. Er scheut nicht davor zurück, zwei komplexe Persönlichkeiten am Ende ihres Lebens zu zeigen, die sich nun weder um sich selbst noch um den anderen kümmern können, aber dennoch jede Unterstützung ablehnen. Berge von Medikamenten türmen sich auf dem Küchentisch, die sie einnehmen oder auch nicht. Beide gehen sichtbar zugrunde, es gibt immer weniger und dann gar keine Gemeinsamkeiten mehr, nur noch die Einsamkeit des individuellen Leidens. Der Mann, der zu Beginn noch hinter seiner Frau herläuft und sie überall sucht, weil sie verschwunden ist, ist bald körperlich nicht mehr dazu fähig. Er findet sie im lokalen Kramladen, wo sie sich zwischen den Regalen verlaufen hat – später wird sie immer verwirrter und geht nicht mehr hinaus. Noé zeigt deutlich, wie beide immer mehr abbauen. Sie verliert beinahe komplett ihre Sprache, er wird von Schlaflosigkeit und Herzschmerzen geplagt. Die sparsamen Dialoge beruhen zumeist auf Improvisation, so wie auch ein Teil der Handlung, die nicht immer eindeutig einem bestimmten Tag zuzuordnen ist, aber dennoch chronologisch verläuft. Der Verfall bestimmt den Zeitablauf. Dabei bleibt Gaspar Noé bei seinen bereits bekannten visuellen Stilmitteln: Jump Cuts – also unerwartete Bildsprünge, aber auch ungewöhnliche Bildschnitte machen den Film neben dem Split Screen, den er bis zum Schluss durchhält – wenn eine Seite schwarz ist, weil der Ehemann verstorben ist – zu einem visuellen Erlebnis der besonderen Art. Inhaltlich erinnert manches an Michael Hanekes AMOUR (Liebe) von 2012, zumal der Ort – Paris – und die Umstände – altes Ehepaar am Ende des Lebens – ähnlich sind. Der kammerspielartige Charakter mag ebenfalls vergleichbar sein, aber formal und gestalterisch steht Noés Film in seiner singulären Ausdruckskraft einzigartig da.

Zwei mutige Schauspieler, Françoise Lebrun und Dario Argento, haben sich auf das Wagnis eingelassen, die Hauptrollen in diesem gleichzeitig furchterregend naturalistischen und dennoch irgendwie hoffnungsvollen Drama zu spielen. Sie war 1973 der Star in „Die Mama und die Hure“, Dario Argento wurde vor allem als Regisseur der italienischen sogenannten Giallo-Filme bekannt: oft brutale, aber kunstvoll arrangierte Thrillerstorys, wie z. B. SUSPIRIA (1978). Das realistische Spiel der beiden, das stark an Dokumentarfilme erinnert, ihr Improvisationstalent und wie sie ebenso mutig wie würdevoll den Verfall darstellen – all das macht aus Gaspar Noés Werk ein besonderes, beinahe ikonisches und sehr wahrhaftiges Kunstwerk.

Gaby Sikorski