Pointierte, lakonische Dialoge, wie man sie in einem deutschen Film selten hört, dazu eine surreale Atmosphäre, die an Yorgos Lanthimos erinnert: Frédéric Hambalek gelingt mit seinem zweiten Film „Was Marielle weiss“ ein bemerkenswertes Kunststück, für das er zurecht in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurde.
Deutschland 2025
Regie & Buch: Frédéric Hambalek
Darsteller: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, Mehmet Ateşçi, Moritz Treuenfels, Victoria Mayer
Länge: 90 Minuten
Verleih: DCM
Kinostart: 17. April 2025
FILMKRITIK:
Auf den ersten Blick wirkt das Leben von Julia (Julia Jentsch), Tobias (Felix Kramer) und ihrer Tochter Marielle (Laeni Geiseler) wie das Abbild der perfekten Familie. Ein wunderbares Designerhaus, erfüllende Jobs, eine wohlerzogene Tochter. Dass all das nur Fassade ist, mag man nicht behaupten, doch Risse in der Oberfläche tun sich bald schneller auf als gedacht.
Katalysator der Entwicklung ist die plötzliche Gabe von Marielle: Nach einem Streit in der Schule bekam die 12jährige von einer Freundin eine Ohrfeige – und besitzt plötzlich seltsame telepathische Fähigkeiten. Sie hört alles, was ihre Eltern reden, von banalen Unterhaltungen im Büro, bis zu Gesprächen, die die Eltern lieber nicht mit anderen teilen würden, weder ihrem Partner und schon gar nicht der Tochter.
Tobias etwa hatte in seinem Verlag bei einer Diskussion über das passende Umschlagmotiv für ein neues Buch den Kürzeren gezogen und klein beigegeben. Am Abendbrottisch behauptet er dennoch, den Kollegen zurechtgewiesen zu haben, doch Marielle weiß, dass diese Inszenierung als Macher nur Fassade ist. Julia wiederum hatte sich beim geheimen Rauchen mit einem Kollegen auf einen zunehmend expliziten Flirt eingelassen, der zwar verbal blieb, aber ins Durchspielen eines Seitensprungs abdriftete.
Mit der Realität konfrontiert, dass die Tochter nun alles von ihren Eltern weiß, verändert sich der Umgang: Als würde ständig jemand mithören, müssen Julia und Tobias genau überlegen, was sie sagen, wie sie wirken wollen. Der Alltag wird zu einer dauerhaften Performance, die schließlich dazu führt, das geheime Phantasien ausgesprochen werden und die Fassade der perfekt funktionierenden Kleinfamilie bis ins Mark erschüttert wird.
Schon in seinen Kurzfilmen und seinem Spielfilmdebüt „Modell Olimpia“ hatte sich Frédéric Hambalek als genauer Beobachter von Zwischenmenschlichem erwiesen, hatte seine Figuren in teils extreme Konstellationen gepresst, um auch zu unbequemen Wahrheiten zu gelangen. Mit Julia Jentsch und Felix Kramer hat er nun ein Duo gecastet, dem es gelingt, die reduzierten, pointierten Dialoge mit der nötigen Lakonie darzubieten, um eine im deutschen Kino nicht allzu oft zu erlebende Mischung aus Witz und Tiefe zu erreichen.
Unweigerlich muss man angesichts der bewusst konstruierten, surreal anmutenden Versuchsanordnung an den Griechen Yorgos Lanthimos denken, der in den letzten Jahren zu einer der herausragenden Figuren des europäischen Kinos geworden ist. Ähnlich wie dessen phantastisch wirkende Konstrukte, nutzt auch Hambalek die seltsame telepathische Fähigkeit Marielles – die auch wenn der Film ihren Namen trägt, eigentlich nur eine Nebenfigur ist – um die festgefahrenen Muster einer Ehe zu sezieren. Der Zwang, die Wahrheit zu sagen, belastet, aber er befreit auch: Julia wagt es endlich, von ihrem Wunsch nach außerehelichem Sex zu berichten, Tobias, ganz der weltoffene Partner, willigt ein: In einer funktionierenden Ehe vertraut man sich, so sagt er, aber ob diese Beziehung wirklich so gut funktioniert wie beide Eltern immer wieder mit schönen Worten behaupten (die Tochter hört schließlich mit und soll nicht denken, dass die Eltern Eheprobleme haben), das mag man bezweifeln.
Auf überraschende Weise gelingt es Frédéric Hambalek schließlich, das seltsame Konstrukt zu einem berührenden Ende zu führen und anzudeuten, das absolute Offenheit vielleicht doch nicht das ist, was man sich in einer Beziehung, aber auch im Verhältnis zu seinen Kindern wünschen mag.
Michael Meyns