We need to talk about Kevin

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Wie wird ein jugendlicher Mensch zum Amokläufer? Und was bedeutet die Tat des Kindes für die Eltern? Der bewegende Roman „Wir müssen über Kevin reden“ von Lionel Shriver stellte schmerzhafte Fragen. Die Filmversion der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay tut dies ebenfalls, aber sie findet dafür ihre ganz eigene Form. In der Hauptrolle begeistert Tilda Swinton als Mutter des Massenmörders. Sie wurde für diese Tour de Force auf diversen Festivals ausgezeichnet und erhielt den Europäischen Filmpreis als beste Darstellerin.

Webseite: www.fugu-films.de

Großbritannien 2011
Regie: Lynne Ramsay
Buch: Lynne Ramsay, Rory Kinnear
Buchvorlage: Lionel Shriver
Darsteller: Tilda Swinton, Ezra Miller, John C. Reilly, Rocky Duer, Jasper Newell
Länge: 110 Minuten
Verleih: fugu Filmverleih
Kinostart: 16. August

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Wieder wurde das Haus von Eva (Tilda Swinton) mit roter Farbe beschmiert. Auf offener Straße bekommt sie von einer Passantin eine Ohrfeige. Und im Supermarkt der US-Kleinstadt versteckt sie sich beim Anblick bestimmter Mütter hinter dem Regal. Eva ist selbst Mutter. Allerdings sitzt ihr 16-jähriger Sohn Kevin (Ezra Miller) im Gefängnis. Er hat in der örtlichen Schule ein Blutbad angerichtet und mehrere Klassenkameraden mit Pfeil und Bogen regelrecht hingerichtet. Das war vor zwei Jahren. Seitdem ist Evas Leben ein einziger Albtraum. Immerhin bekommt sie in einem Reisebüro endlich einen neuen Job. Aber die Vergangenheit will nicht ruhen und sucht sie in Erinnerungen und Träumen immer wieder heim.

Der Film beginnt mit klaustrophobischen Aufnahmen von einer Menschenmasse: Dicht drängen sich zuckende Leiber, über und über mit zerplatzten Tomaten beschmiert. Eine symbolgeladene Exposition, geprägt von der Signalfarbe Rot, die auch im weiteren Verlauf die Farbpalette des Films bestimmen wird. Typisch für den expressiven visuellen Stil von Lynne Ramsay, der schon ihre ersten Filme „Ratchatcher“ und „Morvern Callar“ prägte. Auch „We Need To Talk About Kevin“ lebt von dieser Bildsprache, von assoziativen Schnittfolgen, von Traumfetzen und Zeitsprüngen, die das Narrativ an den Rand der Abstraktion treiben. Konsequent überführt Ramsay, die das Drehbuch mit ihrem Mann schrieb, die Briefstruktur der Romanvorlage in einen genuin filmischen Erzählduktus, der stark mit Rhythmus und Assoziation arbeitet. Dabei setzen sie auch auf eine effektive Parallelmontage, die zwischen den Folgen der Bluttat und der Vorgeschichte springt und eine Konzentration des Materials auf seinen Kern erreicht. Und der entpuppt sich als lupenreiner Psycho-Thriller, der die Familientragödie nur Stück für Stück enthüllt.

Eva kann zu Kevin schon von dessen Geburt an keinen Kontakt aufbauen. Fast autistisch lehnt das Kind jede Form von Zärtlichkeit und Zuwendung ab und spielt im Lauf der Jahre die Eltern immer manipulativer gegeneinander aus. Zunehmend gewinnen diese Rückblenden an Unheimlichkeit; lange war im Kino kein derart bösartiges Kind mehr zu sehen. Tilda Swinton verglich den Film in einem Interview mit „Rosemary‘s Baby“ – der erzähle eine Horrorgeschichte über eine Schwangerschaft, „We Need To Talk About Kevin“ über Elternschaft.

In der Form eines Thrillers bleibt der Film also den bohrenden Fragen des Romans treu. Hat Eva sich schuldig gemacht? Wie um Sühne zu tun, bleibt sie an ihrem Wohnort und erträgt die Blicke und Schikanen ihrer Mitbürger. Werden Menschen böse geboren? Oder haben die Eltern ihren Sohn durch ihre Unehrlichkeit sich selbst gegenüber, durch ihre verdrängten Versagensängste und nicht ausgesprochene Unzufriedenheit, doch auf den falschen Weg gebracht? Sind manche Menschen trotz aller Mühe nicht dafür gemacht, gute Eltern zu sein? „We Need To Talk About Kevin“ erzählt von der ungeheuren Verantwortung, die es bedeutet, ein Kind großzuziehen. Und er provoziert, weil er zeigt, dass Elternschaft eben nicht nur Glück und Zufriedenheit mit sich bringt, sondern auch Ängste, Zweifel und Überforderung.

Oliver Kaever

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