Weisses Rauschen

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Angst vor dem Tod, Pillen, popkultureller Overkill, aufkommender Faschismus: Was sich wie die Gegenwart anhört ist der Inhalt von Don DeLillos legendärem 80er Jahre-Roman „White Noise“, den Noah Baumbach nun kongenial verfilmt hat. Das Ergebnis ist ein 136 Minuten langer Exzess, vollgestopft mit Ideen, Blousonjacken und postmodernen Gedankenspielen.

White Noise
USA 2022
Regie: Noah Baumbach
Buch: Noah Baumbach, nach dem Roman von Don DeLillo
Darsteller: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Jodie Turner-Smith, Raffey Cassidy, Lars Eidinger, Barbara Sukowa

Länge: 136 Minuten
Verleih: Netflix
Kinostart: 8. Dezember 2022

FILMKRITIK:

Ein neues Studienjahr beginnt am liberalen College-on-the-Hill, Jack Gladney (Adam Driver), Professor für Hitler-Studien, bereitet sich auf den Unterricht vor, während seine Frau Babette (Greta Gerwig) zu Hause eine Pille namens Dylar einwirft. Gladneys neuer Kollege Murray Chalmers (Don Cheadle) ist von einer besonderen Gestalt der amerikanischen Popkultur fasziniert: Elvis. Ebenso aber von Autounfällen im Hollywoodkino, die er als kathartischen Moment interpretiert, um die Todesangst der Gegenwart zu bewältigen.

Denn man schreibt das Jahr 1984, die Reagan-Ära steuert ihrem Höhepunkt entgegen, die Bedrohung eines Nuklearkrieges liegt in der Luft, aber schon der Zusammenstoß eines Zuges mit chemischem Materials und eines Lastwagens mit Gas, sorgt durch eine folgenschwere Explosion und anschließender Giftgaswolke für allgegenwärtige Panik. Ein Massenexodus treibt die Bewohner des Uni-Städtchens auf die Straßen, wo sich der längste und chaotischste Stau seit Godards „Weekend“ bildet, der den Mantel der Zivilisation binnen Sekunden zerstört.

Und was hat es eigentlich mit Dylar auf sich, einer experimentellen Droge, die Babette im Austausch für Sex von einem schmierigen Dealer namens Arlo (Lars Eidinger) bekommt? Oder mit der Nonne Marie Hermann (Barbara Sukowa), die längst ihren Glauben an Gott verloren hat?

Ein erhebliches Maß Wahnwitz zieht sich durch „White Noise“, die überaus ambitionierte Adaption des als unverfilmbar geltenden Romans von Don DeLillo, einem der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Postmoderne. 1985 veröffentlicht, beschrieb DeLillo in einer dystopischen Vision, wie sich die Exzesse der amerikanischen Kultur metastasenartig ausweiten und jeden Sinn und Verstand abstreifen werden. Liest man den Roman heute begeistert sein Wortwitz und erschreckt die hellsichtige Schärfe, mit der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte vorweggenommen wurden.

Wie präzise DeLillo unwissentlich die Gegenwart nicht nur aber besonders der USA beschrieben hat, wird ein Grund gewesen sein, dass sich Noah Baumbach nun an eine Adaption gewagt hat. Denn so wie David O. Russells brillanter „Amsterdam“ zwar in den 30er Jahren spielt, aber das Amerika der Gegenwart spiegelt, spielt „White Noise“ zwar 1984, erzählt aber mindestens so viel über das zeitgenössische Amerika wie über die 80er Jahre.

Wobei dank wunderbar detailreicher Ausstattung und Kostüme die 80er Jahre mit all ihren ästhetischen Abgründen zum Leben erwachen, inklusive haarsträubender Frisuren und einer Lust an exzessivem Konsum, die dann wieder in die Gegenwart führt. Erhebliche Teile von „White Noise“ spielen in einem Supermarkt, der so vollgestopft mit Produkten ist, ein so grell überbeleuchteter Konsumtempel, dass Andreas Gursky neidisch werden könnte.

Dass die Panik vor der Giftgaswolke an die gerade mehr oder weniger überstandene Corona-Pandemie erinnert und die Flucht in Pillen an die Opium-Krise, die Amerika noch plagt, liegt auf der Hand und lässt „White Noise“ erst recht zu einer Metapher über die Gegenwart werden. Dass Baumbachs Film dabei nicht immer mehr ist als seine Teile, dass viele, vielleicht auch zu viele Ideen, bisweilen vor allem angehäuft werden und sich nicht unbedingt zu einem großen Ganzen fügen, kann man verschmerzen. Viel zu unterhaltsam ist das Geschehen, viel zu überdreht in seinem satirischen Exzess, so voller Details und Anspielungen, dass „White Noise“ vielleicht nicht immer Sinn ergibt, aber in jedem Moment gleichermaßen irritiert wie fasziniert.

 

Michael Meyns