Westen

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Endlich ging der Ausreiseantrag durch – und jetzt? Für viele der vier Millionen DDR-Bürger, die zwischen 1949 und 1990 ihr Land verließen, war die Ankunft im vermeintlich Goldenen Westen erst einmal ernüchternd. In den so genannten Notaufnahmelagern herrschte der Kalte Krieg, die Menschen wurden von den verschiedenen Geheimdiensten durchleuchtet. Christian Schwochow hat über diesen oft vergessenen Aspekt der deutsch-deutschen Geschichte ein packendes Drama gedreht. Das Drehbuch basiert auf dem Roman „Lagerfeuer“ von Julia Franck. Hauptdarstellerin Jördis Triebel zeigt eine phänomenale Leistung – und wurde dafür auf dem World Film Festival Montreal als Beste Darstellerin ausgezeichnet.

Webseite: www.westen.senator.de

Deutschland 2013
Regie: Christian Schwochow
Buch: Heide Schwochow
Darsteller: Jördis Triebel, Tristan Göbel, Alexander Scheer, Jacky Ido, Anja Antonowicz
Verleih: Senator
Kinostart: 27. März 2014

AUSZEICHNUNGEN:

Ausgezeichnet als Bester Film mit dem Preis der Internationalen Filmkritik und Jördis Triebel als Bester Darstellerin auf dem World Film Festival Montreal.

FILMKRITIK:

Ost-Berlin, Ende der 70er-Jahre: Nach einer letzten Demütigung durch die Grenzpolizei der DDR landen Nelly Senf (Jördis Triebel) und ihr neunjähriger Sohn Alexej (Tristan Göbel) endlich im Westteil der Stadt. Aber statt Freiheit und Konsum wartet eine unfreundliche, überlaufende Baracke: das Notaufnahmelager. Bevor die Flüchtlinge in ihr neues Leben entlassen werden, haben der britische, französische und amerikanische Geheimdienst noch viele Fragen. Im Fall von Nelly etwa: Was geschah wirklich mit ihrem russischen Freund, der vor einigen Jahren in Moskau angeblich bei einem Autounfall ums Leben kam? War er möglicherweise ein Spion? Bald fühlt sich die selbstbewusste Nelly verfolgt. Stimmt es, dass die Stasi ihre Agenten überall hat? Der einsame Hans Pischke (Alexander Scheer) lebt schon seit zwei Jahren im Lager und kümmert sich rührend um Alexej, der in seiner neuen Schule gern mal als „Ostpocke“ bezeichnet wird. Aber Nelly ist sich nicht mehr sicher, ob sie ihm trauen kann.
 
Das Drehbuch verfasste Christian Schwochow gemeinsam mit seiner Mutter Heide, mit der er auch schon bei seinen Filmen „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ zusammenarbeitete. Ihnen gelang es, die Romanvorlage zu verdichten und Nelly Senf zur Hauptfigur zu machen, ohne dass die Geschichte an Substanz verliert. Dazu dienen vor allem die mehrdeutig schillernden Figuren, denen das Drehbuch ihre Widersprüche lässt, und die dunklen Punkte der Geschichte, die es sich nicht beeilt zu erhellen. So entsteht Schwochows bisher reifster Film, in dem er nicht mehr wie früher dazu neigt, einen ambivalenten Bedeutungsraum durch allzu durchsichtige dramaturgische Manöver zu erklären. Gerade die Offenheit der Erzählweise lässt die Vergangenheit lebendig werden und verleiht ihr Resonanz. Die Geschichte wird fast zum Spionage-Thriller, findet aber mühelos ihren Weg zurück zum intimen Charakter-Drama.
 
Dazu tragen ganz besonders die Schauspieler bei. Jördis Triebels Leistung ist phänomenal. Sie zeigt eine schöne, mutige Frau, die aber auch zutiefst verängstigt und verunsichert ist. Ihr Schwanken zwischen Mut, Hoffnung, Verzweiflung, Angst und Misstrauen ist ein Beispiel großer Schauspielkunst. Jördis Triebel trägt den Film mit ihrer schieren Präsenz. Überraschend der Auftritt von Alexander Scheer. Neigte er früher zum Chargieren, zum überlauten Auftritt, wirkt er hier leise und bescheiden, schüchtern beinahe. Er verleiht seinem Hans eine Melancholie, die frühere Wunden andeutet, ohne sie auszustellen.
 
Zuletzt muss auch das Szenenbild von Tim Pannen hervorgehoben werden. Deutsche Filme mit historischen Sujets kranken nicht selten an den wenig überzeugenden Kulissen. Es ist ein Glück, dass „Westen“ ohne die in Babelsberg immer wieder verwendete Studiostraße auskommt. Pannen und Kameramann Frank Lamm erzeugen ein Gefühl für die Historizität des Geschehens durch die Beiläufigkeit, mit der die Kamera zum Beispiel eine bröckelnde Mietskaserne in den Blick nimmt. Die Sets wirken nie gemacht, sondern real. „Westen“ bekommt so eine Dringlichkeit, die sich nicht hinter den Jahren versteckt. Man spürt, dass Schwochow und seine Mutter, die 1989 in den Westen kamen, hier auch ein Stück ihrer eigenen Erfahrung verarbeiten.
 
Oliver Kaever