Why Are We Creative?

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Seit 30 Jahren stellt Hermann Veske Prominenten aus allen Bereichen die immer gleiche Frage: „Why are you creative?“ Aus diesem Projekt ist nun ein Film geworden, der zwar dokumentarischen Charakter hat, aber im Grunde selbst auch wieder ein Kunstprojekt ist. Wer in 82 Minuten möglichst viele Stars sehen möchte, ist hier genau richtig. Einige von ihnen werden im Gedächtnis bleiben, Stephen Hawking vielleicht oder Yoko Ono, David Bowie, Peter Ustinov. Zwischendurch gibt es zur Auflockerung animierte Clips, lauter kleine Kunstwerke und oft sehr witzig, so wie der gesamte Film durchaus gelungen Humor und Ernsthaftigkeit verbindet. Der ästhetische Anspruch ist zudem unverkennbar, aber ob das für einen Kinoerfolg reicht?

Webseite: riseandshine-cinema.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2018
Buch, Regie: Hermann Vaske
Musik: Teho Teardo, Blixa Bargeld
82 Minuten
Verleih: Rise and Shine Cinema
Kinostart: 4. Oktober 2018

FILMKRITIK:

Wenn in 82 Minuten mehr als 50 Personen dieselbe Frage gestellt wird, dann hört sich das nicht nur nach einer Dreisatzrechnung an – wie viele Personen werden dann pro Minute befragt? –, sondern es liegt der Verdacht nahe, dass hier nur an der Oberfläche gekratzt wird. Irgendwie stimmt das auch, aber andererseits ist der Film selbst ein Kunstprojekt und entzieht sich dadurch gewissen Kriterien, die sonst für Dokumentarfilme gelten.
 
Hier ist beispielsweise keine dramaturgische Linie erkennbar, lediglich eine grobe chronologische Abfolge, die Schnipsel werden scheinbar planlos aneinandergehängt. Es gibt einen Anfang, der von der Idee und dem eher zufälligen Start des Projektes handelt und von der Fragestellung: „Why are you creative?“ Ganz am Ende ist Michael Haneke dran und antwortet in wunderbarem Hochwienerisch: „I glaub, man sollte einen Tausendfüßler nie fragen, warum er geht, weil dann fangt er an zu stolpern.“ Und dann setzt er noch einen drauf und erzählt von Gustav Mahler, der sich bei Sigmund Freud analysieren lassen wollte und davon abließ, weil Freud ihm sagte, er würde dadurch vielleicht seine Kreativität verlieren. Insofern sei diese Frage, an Kreative gestellt, ziemlich verhängnisvoll. Da hat er irgendwie recht, der Michael Haneke, auch wenn er damit Hermann Vaskes ganzes Projekt torpediert. Das ist aber zumindest ein hübscher, gelungener Schlussakkord.
 
Doch während des Films entsteht schon bald der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, zumal die einzelnen Begegnungen meist sehr kurz sind. Prominent sind sie alle irgendwie, die hier befragt werden, die meisten erkennt man, einige nicht. Viele schreiben ihr Sprüchlein zur Kreativität auf, geben ihr Autogramm und malen oder zeichnen ein Bildchen dazu. Bei allen steht der Name und meistens die Profession dabei, aber manchmal sind die Beteiligten so schnell wieder weg, dass kaum Zeit bleibt, den Namen zu lesen. Viele der Befragten sind mittlerweile verstorben – kein Wunder: Das Projekt gibt es seit 30 Jahren, aber es ist doch einigermaßen erschütternd, wenn man bemerkt, dass eine recht hohe Zahl von ihnen Selbstmord begangen hat. Trotzdem ist es schön, sie alle noch einmal wiederzusehen, die Alten und die Jungen, die man „früh vollendet“ zu nennen pflegt, wenn sie als Kreative jung sterben. Was für ein Unsinn übrigens, aber immerhin eine romantische Vorstellung. Die meisten sind gut gelaunt, wenn sie befragt werden. Wer mies drauf ist, bekommt nur ein paar Sekunden. Merkwürdigerweise hat Hermann Vaske mehr Architekten als Schriftsteller interviewt, deutlich mehr Schauspieler als Musiker und zumindest vom Gesamteindruck her sehr deutlich weniger Frauen als Männer. Die befragten Frauen kann man beinahe an den Händen abzählen. Kleine Gedächtnisübung zwischendurch. Yoko Ono, Jeanne Moreau, Björk, Isabella Rosselini, Zara Hadid, Vivienne Westwood, Angelina Jolie, Diane Kruger … und wer noch? Vielleicht hat Hermann Vaske Angst vor Frauen und Autoren? Vielleicht hat er deshalb keine prominente Autorin befragt. Oder hat er es doch getan, und die Bilder sind einfach vorbeigeflogen, so wie die anderen? Manche Stars sind sehr exaltiert, Quentin Tarantino ist supergut drauf, und Björk fläzt sich in den Sessel. Oder war es ein Sofa? Viele Bilder wurden in Cannes aufgenommen, da gab es 2002 eine Ausstellung zum Projekt, und die ganzen Sprüche und Bildchen hängen an der Wand. David Bowie kommt zwei Mal vor oder sogar drei Mal? Auch Peter Ustinov und ein paar andere haben mehrere Auftritte. Aha. Und wieso kennt Hermann Vaske, der aus der Werbung kommt, so viele berühmte Performancekünstler und Architekten?
 
Die Machart des Films ist geradezu eine Einladung, die Gedanken spazieren gehen zu lassen. Die berühmten Köpfe rauschen vorbei, und was passiert? Man wird kreativ und denkt unwillkürlich an alles mögliche andere, an die Einkaufsliste, ans Abendessen oder daran, was alles auf dem Schreibtisch liegen bleibt, während man im Kino sitzt. Lange nicht gedachte Gedanken hüpfen oder schlendern durchs Gehirn, das sich angesichts der Wiederholungen im Ablauf unterbeschäftigt fühlt. Warum sind die Äußerungen von Prominenten so interessant, dass man einen Film darüber machen muss? Wie viele waren es ursprünglich, und hat man die Doppelten ausgemustert? Haben vielleicht 800 Prominente dasselbe gesagt, und nur einer von ihnen darf mit hier hinein? Hätte man nicht auch mal zwischendurch ein paar Kinder oder Leute von der Straße fragen können? Stattdessen jagt eine Berühmtheit die nächste. Ab und an wird mal was erklärt, aber nicht zu viel und schon gar nichts darüber, wie Kreativität eigentlich funktioniert, denn das weiß keiner. All das ist immerhin ganz amüsant und entspannend, und die animierten Zwischenclips sind wirklich witzig.
 
Je nach Befindlichkeit taucht früher oder später die Frage auf: Wie würde man selbst antworten? Beballert von den mehr oder weniger klugen Spontansprüchen der Prominenten fiele die Antwort vermutlich eher flapsig aus: „Weil ich keine Ahnung von Steuerrecht habe?“ – „Weil mir die Menschen viel Geld dafür geben“, hat zum Beispiel auch keiner gesagt. Die Antwort auf die Frage: „Warum muss dieser Film unbedingt ins Kino?“, wäre mindestens ebenso interessant. Und sie lautet vermutlich: „Weil das Kunst ist.“
 
Gaby Sikorski