Wie wilde Tiere

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Wenn Nachbarn streiten: Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Weltsichten und Befindlichkeiten inszeniert Rodrigo Sorogoyen in „Wie wilde Tiere“ als intensives Thriller-Drama, das langsam, aber unausweichlich auf eine Eskalation zusteuert. Beeindruckend sind neben einem klug konstruierten Drehbuch und einem Gespür für atmosphärische Schwingungen vor allem die Leistungen der Hauptdarsteller. Denis Ménochet und seine Mitstreiter bringen mit ihrem Spiel die Leinwand regelrecht zum Beben. Großes Kino ohne Effekthascherei, das von wahren Begebenheiten inspiriert wurde!

Webseite: https://www.prokino.de/movies/details/WIE_WILDE_TIERE

As bestas
Regie: Rodrigo Sorogoyen
Drehbuch: Rodrigo Sorogoyen, Isabel Peña
Darsteller: Denis Ménochet, Marina Foïs, Luis Zahera, Diego Anido, Marie Colomb, Luisa Merelas, José Manuel Fernández Blanco u.a.

Länge: 137 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Verleih/Vertrieb: Prokino/StudioCanal Deutschland
Kinostart: 07.12.2023

FILMKRITIK:

Backwoods-Film nennt sich eine Untergattung des Horror- und Thriller-Genres, die sich auf die in der Provinz lauernden Gefahren fokussiert. Protagonisten aus der Stadt fahren ins Hinterland, suchen eine neue Heimat, nach Erholung oder Abenteuer – und geraten unverhofft mit mörderischen Kräften aneinander. Sam Peckinpahs „Wer Gewalt sät“, John Boormans „Beim Sterben ist jeder der Erste“, Tobe Hoopers „The Texas Chainsaw Massacre“, auch bekannt als „Blutgericht in Texas“, und Walter Hills „Die letzten Amerikaner“ sind nur einige Beispiele eben jener Spannungsströmung, in der es immer wieder um die dünne Schicht der Zivilisation, das Brutale im Menschen geht.

„Wie wilde Tiere“ passt mit seiner von Anfang an geschürten konfrontativen Stimmung einerseits perfekt ins Bild, hebt sich von vielen anderen Backwoods-Werken aber durch seine Brüche und seine bedächtige Erzählweise ab. Im Mittelpunkt des Films steht das französische Ehepaar Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs), das nach Galicien, eine Region im Nordwesten Spaniens, ausgewandert ist, um in einem Bergdorf einen Biobauernhof zu betreiben. Ihr einfaches Aussteigerleben könnte so schön sein, wenn da nicht das Angebot eines Energiekonzerns wäre, der große Landflächen für einen Windpark benötigt. Antoines und Olgas direkte Nachbarn, die Brüder Xan (Luis Zahera) und Lorenzo (Diego Anido), würden, wie viele Einheimische, gerne schnellstmöglich verkaufen. Doch die Zugezogenen weigern sich, ihren Grund und Boden abzutreten – weshalb das gesamte Projekt zu scheitern droht. Aus aufgebrachten Worten werden irgendwann Taten.

Dass ein Klima der Anspannung vorherrscht, merkt man schon in den ersten Minuten in der Art und Weise, wie Wortführer Xan Antoine in der Dorfkneipe verabschiedet. Viel hat er offenbar nicht für den Franzosen übrig, der sich von den Provokationen zunächst nicht aus der Ruhe bringen lässt. Bis es zu ersten Handgreiflichkeiten kommt, dauert es eine ganze Weile. Jedes Mal, wenn sich die beiden Männer begegnen und über ihre konträren Standpunkte diskutieren, brennt die Luft, was nicht zuletzt den Darstellern zu verdanken ist. Besonders Ménochet, schon oft als Naturgewalt inszeniert, strahlt eine Intensität aus, die ihresgleichen sucht. Hinter Antoines wuchtigem Erscheinungsbild scheint es ständig zu arbeiten. Angst und Wut vermischen sich. Und es wirkt so, als könne der frühere Lehrer nur mühsam die Kontrolle bewahren.

Als clevere Entscheidung erweist sich der Schachzug, das oft starre Gut-Böse-Schema des Backwoods-Genres aufzubrechen. Auch wenn Xan sicherlich kein Sympathieträger ist, sind manche seiner Hinweise und Argumente nachvollziehbar. Wer möchte es ihm und seinem geistig beeinträchtigen Bruder verdenken, dass sie dem harten, perspektivarmen Landleben entfliehen wollen? Sie, die weniger privilegiert sind als Antoine, sehen in dem Angebot der Energiefirma eine große Chance und haben wenig Verständnis für die unerschütterliche Haltung ihres Nachbarn. Andererseits hat der Franzose jedes Recht, das erworbene Land zu behalten, und nicht die Pflicht, sich der Mehrheitsmeinung zu beugen. In seinem Blick liegt allerdings manchmal eine Spur Herablassung. Und mehrfach wirken seine Ausführungen, als glaube er, Xan die Welt erklären zu müssen, was dieser natürlich als Beleidung empfindet. Die Gemengelage ist kompliziert. Auch, weil die fürs Erste etwas im Hintergrund bleibende Olga die Auffassung ihres Mannes nicht rückhaltlos teilt. Lohnt es sich, so fragt sie, wirklich bis zum Äußersten zu kämpfen? Ist es vielleicht nicht klüger nachzugeben, woanders sein Glück zu suchen?

In puncto Entschlossenheit steht Olga Antoine in nichts nach. Mit dem Konflikt geht sie jedoch anders um als ihr Gatte, der mit seinem Handeln seinen Beitrag zur Eskalation leistet. Ein fast unerträglich eindringlich gefilmter Gewaltausbruch nach rund 90 Minuten sorgt für einen Richtungswechsel, ohne dass die Spannung danach abfallen würde. Auch weiterhin gelingen Rodrigo Sorogoyen Szenen von unglaublicher Wucht, etwa eine längere Passage auf einem Viehmarkt. Ein Knistern erzeugen zudem die Streitgespräche zwischen Olga und ihrer Tochter Marie (Marie Colomb), die das Verhalten ihrer Mutter partout nicht nachvollziehen kann. „Wie wilde Tiere“ ist ein komplexer, fesselnder, verstörender Film, dessen raues, erdiges Setting den denkbar besten Hintergrund für die zentrale Auseinandersetzung bildet.

 

Christopher Diekhaus