Wild Rose

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Aktuell wartet alle (Film-)Welt gespannt auf Tom Harpers Fliegerdrama „The Aeronauts“. Von diesem Film erhofft sich manch ein Insider diverse Awardnominierungen. Nicht zuletzt, weil hier einmal mehr Felicity Jones und Eddie Redmayne gemeinsam vor der Kamera stehen. Hoffen wir, dass dabei Harpers Indie-Drama „Wild Rose“ nicht untergeht. Denn die Geschichte rund um eine auf die schiefe Bahn geratene Countrysängerin besticht mit Anarchie, Aufrichtigkeit und einer meisterhaften Hauptdarstellerin.

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UK 2019
Regie: Tom Harper
Darsteller: Jessie Buckley, Matt Costello, Jane Patterson, Lesley Hart, Carol Pyper Rafferty, Julie Walters, Adam Mitchell
Verleih: Entertainment One Filmverleih
Länge: 101 Min.
Start: 12. Dezember 2019

FILMKRITIK:

Rose-Lynne Harlan (Jessie Buckley) ist soeben aus einer einjährigen Haftstrafe entlassen worden, als sie ihr erster Weg in eine verranzte Countrykneipe führt. Hier hat sie vor ihrem Gefängnisaufenthalt gemeinsam mit ihrer Band gesungen. Mittlerweile will man sie hier allerdings nicht mehr sehen. So besucht sie ihre Mutter Marion (Julie Walters), die während dieser Zeit auf Rose-Lynnes Kinder aufgepasst hat. Zu diesen pflegt die junge Mutter ein gespaltenes Verhältnis, da diese sie nie im Knast besucht haben. Die unkonventionelle Familie – Mutter, Mutter und die beiden Kinder – müssen sich erst vorsichtig wieder annähern, was die begnadete Sängerin allerdings nicht davon abhält, es ihnen so schwer wie möglich zu machen. Dem Traum, eine erfolgreiche Künstlerin zu werden, hinterherjagend, stößt sie ihre Kinder immer wieder vor den Kopf, indem sie nur auf ihre eigenen Bedürfnisse hört. Eines Tages lernt sie bei einem Putzjob die wohlsituierte Susannah (Sophie Okonedo) kennen. Sie wird auf Rose-Lynnes Talent aufmerksam und versucht, ihre Karriere zu pushen…
 
Die Zutaten, die die Drehbuchautorin Nicole Taylor („Three Girls – Warum glaubt uns Niemand?“) für ihr Kinodebüt „Wild Rose“ zusammenmischt, deuten eigentlich nicht direkt darauf hin, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen, gar innovativen Film zu tun bekommt. Geschichten über den Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg von Künstlerinnen und Künstlern gibt es wie Sand am Meer. Aktuell werden gar diverse solch wahrer Stories („Bohemian Rhapsody“, „Rocketman“…) für die große Leinwand adaptiert, weil sich das Queen-Biopic im vergangenen Jahr zu einem der größten Überraschungserfolge jüngerer Kinofilmgeschichte entwickelte. Und dann wäre da ja auch noch die Neuauflage von „A Star is Born“, die zwar einen ganz und gar nicht optimistischen Tonfall anlegt, letztlich aber wieder „nur“ vom Traum einer Sängerin erzählt, die am Ende (immerhin) mit einer großen Karriere entlohnt wird. Tom Harpers „Wild Rose“ könnte bei derartiger Konkurrenz unter dem Radar laufen, gehört aber mindestens ebenso berücksichtigt wie all die soeben genannten Produktionen, denn sein fiktives Biopic über eine gleichermaßen egomanische wie aufopferungsvoll hin- und hergerissene Countrysängerin steckt voller Leben und begeistert mit einer Hauptdarstellerin, von der man im Anschluss an „Wild Rose“ unbedingt mehr sehen möchte.
 
Jessie Buckley begeisterte bislang vorwiegend in Serien. Zuletzt war sie etwa in der gefeierten HBO-Produktion „Chernobyl“ zu sehen und spielte hier die Rolle der Lyudmilla Ignatenko. In „Wild Rose“ hat sie jedoch erstmalig die Gelegenheit, die Szenerie zu jeder Sekunde ihres Auftritts – das gilt übrigens auch im Wortsinne – an sich zu reißen. Und so überstrahlt sie nicht nur während ihrer kraftvollen Gesangsperformances alles und jeden, sondern verhilft „Wild Rose“ auch abseits davon zu einer ungemeinen Dynamik. Einfach macht es die von ihr verkörperte Figur der Rose-Lynne ihrem Publikum allerdings nicht. Wir lernen die junge Frau als gleichermaßen kaltschnäuzige wie lange Zeit sehr Ich-bezogene Person kennen, die ihrer Karriere zuliebe auch die Beziehung zu ihren Kindern zu vernachlässigen gewillt ist. Dass sie von dem Publikum, das ihr nach den Auftritten begeistert zujubelt, allerdings deutlich mehr Zuneigung erhält, als sie diese zunächst von ihrer Familie erfährt, offenbart sich Stück für Stück und macht aus Rose-Lynne sukzessive eine runde, zwischen den Stühlen gefangene Figur, die es letztlich immer doch nur allen Recht machen will und darüber sich selbst zu vergessen droht. Besonders deutlich wird das in einer Szene ziemlich zum Schluss. Diese wollen wir natürlich nicht vorab verraten, doch wie Rose-Lynnes Mutter ihrer Tochter endlich genau das sagt, was wir eigentlich die ganze Zeit schon geahnt haben, rührt dann doch zu Tränen – sowohl Rose-Lynne als auch das Publikum.
 
Inszenatorisch ist Regisseur Tom Harper („Die Frau in Schwarz 2: Engel des Todes“) immer ganz nah dran an Rose-Lynne, die in nahezu jeder Szene zu sehen ist. Tempo und die Dynamik der Kamerafahrten (George Steel, „Robin Hood“) passt er dabei dem Gemütszustand seiner Protagonistin an, die mal wie eine Furie durch die abgefuckte Billig-Wohngegend in Glasgow stapft, wo sie doch eigentlich viel lieber in Nashville wäre, dann wiederum vollkommen enthemmt zu Countrypopsongs durch das Zimmer ihrer Arbeitgeberin tanzt und zwischendurch immer wieder Zärtlichkeiten mit ihren Kindern austauscht. Die hier präsentierte Hauptfigur ist derart widersprüchlich, dass wir uns sehr gut vorstellen könnten, dass wir am Ende des Films genug Zuschauer finden würden, die Rose-Lynne einfach für eine absolute Unsympathin befinden würden. Doch mit seinem Film ergreift Tom Harper letztlich auch kaum Partei für die Protagonistin selbst, sondern vielmehr dafür, sein eigenes Leben beim Schopfe zu packen und sich selbst aus dem Morast zu ziehen. Und genau diese Botschaft gelingt einem mit einer zwiespältigen Identifikationsfigur wohl am besten – eben weil im Leben eben nicht alles schwarz und weiß ist.

Die Geschichte rund um eine aufstrebende Musikerin, die alles unternimmt, um endlich Erfolg zu haben, ist nicht neu. Doch Tom Harper versieht seine Hauptfigur mit genug Ecken und Kanten, dass man eine solche Story in „Wild Rose“ noch einmal von einer völlig neuen Seite zu erleben scheint. Und Jessie Buckley alleine ist bereits das Kinoticket wert.
 
Antje Wessels