Wo/men

In den oft unzugänglichen albanischen Gebirgsregionen gilt bis heute ein ungeschriebenes archaisches Gesetz, das Frauen Freiheiten einräumt, die sie ansonsten nicht haben. Dafür müssen sie sich als Männer deklarieren. Sie verzichten damit auf Liebe, Ehe und Mutterschaft, können aber dafür ihre Familien unterstützen und verfügen über die gleichen Rechte wie Männer.

Die hoch interessante Dokumentation erzählt von sechs dieser „Burrneshas“ – sie alle haben sich freiwillig dazu entschlossen, eine „Mannfrau“ zu werden. Das wäre in etwa die wörtliche Übersetzung des Begriffs. Es geht dabei um Geschlechtsidentität sowie um gesellschaftliche Normen und wie sie überwunden werden können.

 

Über den Film

Originaltitel

House with a Voice

Deutscher Titel

Wo/men

Produktionsland

DEU

Filmdauer

85 min

Produktionsjahr

2024

Produzent

Springer, Katrin

Regisseur

Nrecaj, Kristine / Templin, Birthe

Verleih

missingFILMs – Acrivulis & Severin GbR

Starttermin

15.05.2025

 

Gleich zu Beginn eine Schneelandschaft von oben: Ein einsames Pferd zieht seine Spur durch den Schnee … es läuft auf eine Gruppe von Häusern zu. Seine Spur teilt die Landschaft, so wie beim Holzhacken die einzelnen Scheite geteilt werden – gleichsam als Symbol, für das, was kommt. Es geht im Kern um eine nach archaisch patriarchalen Gesichtspunkten eingeteilte Gesellschaft, in der sich die Frauen nach den strengen Regeln der Männer zu verhalten haben. Doch die albanische Gesellschaft sieht Ausnahmen vor. Sie existieren bis heute in Gestalt der Burrneshas: Frauen, die sich entschlossen haben, meist aus familiären Gründen, als Männer zu leben. Sie kleiden sich und leben wie Männer, und sie werden von der Gesellschaft als vollwertige Männer anerkannt.

Lumturia ist die erste, die sich vorstellt, und sie antwortet auf die Frage: „Ist es einfacher, als Mann zu leben?“ mit einem ganz klaren „Ja, auf jeden Fall.“ Das lässt tief blicken, doch der Hauptgrund, warum sich die sechs Frauen, um die es hier geht, zum Leben als Mann entschlossen haben, ist keineswegs, weil sie es einfacher haben wollten, sondern weil sie durch familiäre Umstände dazu gebracht wurden. Wenn es keinen männlichen Erben gab, der als Familienoberhaupt fungieren konnte, dann konnte eine Frau sich bereit erklären, diese Aufgabe zu übernehmen, aber dafür musste sie ihre Identität als Frau abgeben. Eine von ihnen war Marta, die bis heute die traditionelle Kopfbedeckung der Männer mit Würde trägt, obwohl ihr die weiße Kappe mittlerweile von ihrem Kopf zu rutschen droht. Sie ist die Älteste im Kreis der Burrneshas, ein zartes Wesen, von ihrer Familie verehrt – so wie es üblich ist für die Alten, bei denen schon aus natürlichen Gründen die äußerlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau schwinden. Marta leistete als Elfjährige den Schwur, mit dem sie auf ihre spärlichen Frauenrechte verzichtete und zum Mann deklariert wurde.

Heute gibt es nur noch wenige und meist ältere Burrneshas, sie leben meistens in den Bergen bei ihren Familien. Eine von ihnen arbeitet jedoch als Busfahrer, und dadurch hat sie die Möglichkeit, die Mädchen und Frauen, die bei ihr mitfahren, vor Übergriffen zu schützen. Notfalls unter Androhung von Gewalt, da ist sie alles andere als zimperlich. Generell scheint es, als ob alle Burrneshas ihre Rolle als Mann mit großer Selbstverständlichkeit übernommen haben – und einige genießen es.

Das eigentliche Drama liegt hier in der Vorgabe, dass Freiheit und Selbstbestimmung für Frauen in Albanien zumindest in früheren Zeiten nur möglich war bzw. ist, wenn sie ihr Frausein verleugnen. Die sechs Burrneshas im Film sympathisieren durchaus mit feministischen Positionen, aber eigentlich sind sie auch der lebende Beweis dafür, dass die individuelle Anerkennung absolut nichts mit dem Geschlecht zu tun hat – es handelt sich um eine gesellschaftliche Verabredung. Und hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich einige Fortschritte gegeben, auch in Albanien. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die noch lebenden Burrneshas in ihrem Land von einer Talkshow zur nächsten weitergereicht wurden. Einige Ausschnitte sind auch im Film zu sehen. Während aber die unkommentierten Gespräche mit den Burrneshas in großer Ruhe, Würde und Freundlichkeit verlaufen, was vor allem den beiden sensiblen Filmemacherinnen Kristine Nrecaj und Birthe Templin zu verdanken ist, wirken die TV-Ausschnitte dagegen knallig und beinahe unangemessen. Die Fragen gehen ohne Ankündigung gleich in die Intimsphäre, so zum Beispiel: „Haben Sie jemals sexuelles Verlangen gefühlt?“ Doch die Burrneshas können sich gut zur Wehr setzen. Sie verfügen offenbar über eine große Portion Selbstvertrauen. „Ich bin die Frau, die ich bin, oder der Mann, der ich bin“, sagt eine von ihnen über sich.

Insgesamt geht es natürlich um Geschlechtsidentität und Rollenverhalten, aber auch um die Frage, welche gesellschaftlichen Schranken es eigentlich verhindern, dass Männer und Frauen so leben können, wie sie es sich vorstellen. Der Film weckt den Eindruck, dass sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auflösen könnten, obwohl natürlich letztlich das Verhalten der Burrneshas auf der Anerkennung des patriarchalischen Systems beruht, dem sie sich in ihrem Status unterwerfen. Wenn Frauen Männer werden müssen, um ihre Freiheit zu erhalten und selbst über ihr Leben zu bestimmen, dann hat das mit Emanzipation eigentlich wenig zu tun. Doch hier geht es auch darum, einen Diskurs in Gang zu setzen.  Was ist männlich, was ist weiblich? Was ist angeboren und was ist angelernt? Insofern geht diese originelle Dokumentation über den Status eines feministischen Bekenntnisses hinaus und liefert viele interessante Denkansätze.

 

Gaby Sikorski

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