Ein Slasherfilm in Texas? Bei dieser Konstellation muss man kein Experte sein, um an das legendäre „Texas Chainsaw Massacre“ zu denken, einen der einflussreichsten Filme der 70er Jahre. Auch Ti West nimmt in seinem „X“ überdeutlich Bezug auf den Klassiker, variiert Genremuster, spielt mit Klischees und schafft so einen gleichermaßen modernen wie altmodischen Slasherfilm.
USA 2022
Regie & Buch: Ti West
Darsteller: Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Kid Cudi, Martin Henderson, Owen Campbell, Stephen Ure, James Gaylyn
Länge: 105 Minuten
Verleih: Capelight
Kinostart: 19. Mai 2022
USA 2022
Regie & Buch: Ti West
Darsteller: Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Kid Cudi, Martin Henderson, Owen Campbell, Stephen Ure, James Gaylyn
Länge: 105 Minuten
Verleih: Capelight
Kinostart: 19. Mai 2022
Über den Film
Originaltitel
X
Deutscher Titel
X
Produktionsland
USA
Filmdauer
105 min
Produktionsjahr
2022
Produzent
Jaffke, Jacob / Kreiss, harrison / Turen, Kevin
Regisseur
West, Ti
Verleih
capelight pictures OHG
Starttermin
18.05.2022
FILMKRITIK:
Texas 1979. Filmkameras werden immer billiger, die ersten Videorekorder sind auf dem Markt und läuten die Ära des Heimkinos ein. Und was verspricht besonderen Erfolg für das Sehen im privaten Raum: Pornos. Diesem Gedanken folgt der findige, windige Geschäftsmann Wayne (Martin Henderson) und hat in der Provinz ein Gästehaus samt Scheune als Drehort für eine Pornofilmproduktion gemietet.
Hauptdarstellerin für seinen expliziten Film ist Waynes Freundin Maxine (Mia Goth), eine Stripperin, die sich zu höherem berufen fühlt, aber dennoch ständig Koks ziehen muss, um nicht zu verzweifeln. Ihr zur Seite stehen die sehr blonde Bobby-Lynn (Brittany Snow) und als männlicher Hauptdarsteller der schwarze Vietnam-Veteran Jackson (Kid Cudi). Als Kameramann hat Wayne den Möchtegern-Regisseur RJ (Owen Campbell) engagiert, der die Ambition hat, einen künstlerischen Film zu drehen und nicht nur einen Porno. Vervollständigt wird die Crew von RJs anfänglich sehr schüchterner Freundin Lorraine (Jenna Ortega), die eigentlich nur für den Ton verantwortlich ist, bald aber vor die Kamera treten möchte. Die Gastgeber des Quintetts sind das greise Ehepaar Pearl und Howard, die zwar harmlos wirken, aber natürlich alles andere als harmlos sind.
Überdeutlich spielt Ti West mit Motiven des Slasherfilms, zitiert bis ins Detail den Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“, ohne jedoch zur reinen Kopie zu werden. Denn im Gegensatz zu vielen ähnlichen Filmen der letzten Jahre, die mit modernen stilistischen Mitteln arbeiteten, rasante Schnittfolgen zeigten, satte Farben und moderne Musik verwendeten, lässt West seinen Film nicht nur 1979 spielen sondern auch aussehen wie einen Film aus den späten 70ern.
Die Bilder wirken körnig als wäre auf Zelluloid gedreht worden, das Licht ist weich, der Schnitt langsam, geradezu bedächtig. Doch die Ideologie des Films entstammt ganz der heutigen Zeit, spielt zwar mit den Klischees des Genres, wie sie etwa in einem Meta-Film wie „Scream“ verhandelt wurden (vom Grundsatz „wer zuerst Sex hat stirbt zuerst“, bis zum „Final Girl“, das dem Täter als Einzige entkommt), gibt ihnen aber einen, großzügig gesagt, feministischen Dreh.
Fragen der weiblichen Selbstbestimmung werden verhandelt, zumindest im Ansatz, nicht zuletzt in der interessantesten Gestalt der greisen Pearl. Wie Pearl wurde was sie hier ist wird demnächst in einem schon abgedrehten Prequel zu sehen sein, doch man kann ahnen, zu welchem Leben sie gezwungen war, wie ihre persönlichen Ambitionen von der patriarchalischen Gesellschaft zerstört wurden.
Blutrünstig ist sie dennoch, an harten Slasherszenen spart West nicht. Dennoch wirken Pearl und Howard wie verletzliche Wesen, ist ihre Menschlichkeit hinter den tiefen Falten, dem schütteren Haar und den im Verfall befindlichen Körpern jederzeit spürbar. So wie RJ im Film, versucht auch Ti West mit „X“ mehr zu sein als „nur“ ein Slasherfilm. Ganz gelingt ihm das zwar nicht, im Kern ist „X“ trotz des Versuchs, substanziellere Charaktere zu zeigen nicht mehr als Exploitation, dafür aber stilistisch herausragende.
Michael Meyns
Eine Gruppe von jungen Leuten hat eine Scheune auf einer abgelegenen Farm in Texas angemietet. Dort wollen sie den Pornofilm „The Farmer’s Daughter“ drehen, ohne dass das alte Paar, das ihnen die Scheune vermietet hat, etwas davon wissen würde. Die Dreharbeiten laufen gut, Maxine (Mia Goth) hat aber schon bald eine unheimliche Begegnung mit der alten Pearl (Mia Goth). Von da an spitzt sich die Situation nur zu, denn mit den Sündern in der Scheune kann man nach Ansicht des Alten nur auf eine Art verfahren. Man schickt sie am besten zur Hölle.
Ti West hat schon mit „The House of the Devil“ gezeigt, dass er perfekt darin ist, das erzählerische Flair längst vergangener Dekaden einzufangen. Sah dieses Werk wie ein Horrorfilm der frühen 1980er aus, so ist „X“ ganz und gar dem Terrorkino der 1970er Jahre verpflichtet. Von Anfang an weckt das Ganze Erinnerungen an „Texas Chainsaw Massacre“, geht aber seinen eigenen Weg. Weil West mit den beiden alten Menschen eine ungewöhnliche Bedrohung aufbaut. Die Zwei erscheinen gruselig, aber die jungen und fitten Protagonisten fühlen sich nicht bedroht. Es ist jedoch effektiv, wie West dennoch ein unheimliches Gefühl generiert – weil mit den beiden Alten mehr los ist, als man auf den ersten Blick erkennen kann.
In der Metaebene geht es um die Vergänglichkeit der Schönheit. Pearl war einst nicht so viel anders als Maxine – vielleicht davon abgesehen, dass sie keine Pornos gedreht hat. Aber was auch immer sie hatte, mit dem Alter ist es verwelkt, und diesen Verlust hat sie nie verwunden. Man könnte „X“ als eine Art Generationenkonflikt ansehen, mit dem Neid der Alten auf die Unbeschwertheit der Jugend. Es ist dabei ein interessanter Kunstgriff, sowohl Maxine als auch Pearl von Mia Goth spielen zu lassen.
Als sich Ti West während der Dreharbeiten in Neuseeland zwei Wochen in Quarantäne begeben musste, nutzte er die Zeit, um „Pearl“ zu schreiben, ein Prequel, das er Mia Goth dann vorschlug und direkt im Anschluss drehte. Die Figur faszinierte ihn, und das gilt auch für den Zuschauer. Man spürt, dass Pearls Geschichte mehr hergibt, als dieser Film offenbart – vor allem, wenn man das letzte Bild im Kopf behält, das den Fernsehprediger zeigt. Dessen Tiraden sind immer auch ein Kommentar auf den Film.
Wests Film ist sehr verspielt. Er stellt Handlungen gegenüber und lässt Dialoge der einen Erzählebene das Geschehen der anderen kommentieren. Er spielt auch mit den typischen Tropen des Genres. Im Horrorgenre ist Sex oft gleichbedeutend mit dem Tod: Die Promiskuitiven sterben zuerst. Nicht so bei „X“.
Das Label X wurde in den 1970er Jahren für Filme genutzt, die der MPAA, dem amerikanischen Äquivalent zur FSK, nicht vorgelegt wurden. Das Label war nicht geschützt, jeder konnte es benutzen. Waren es zuerst Filme wie „Fritz the Cat“ oder auch „Midnight Express“, die es nutzten, weil sie eine geringere Freigabe gar nicht erhalten hätten und das X auch eine gewisse Publicity mit sich brachte, wurde es bald vom Porno-Gewerbe übernommen und in den Köpfen der Öffentlichkeit gleichbedeutend mit Pornos. Dem trug die MPAA später Rechnung, indem das Label NC-17 eingeführt wurde. Aber sowohl X als auch NC-17 waren für viele Kinobetreiber ein rotes Tuch. Sie weigerten sich, diese Filme zu zeigen.
Wäre Ti Wests Film tatsächlich im Jahr 1979 entstanden, hätte er wohl auch ein X gehabt – es dauert zwar, bis die Dezimierung der jungen Leute beginnt, dann ist sie aber schon recht krass. In erster Linie definiert sich „X“ aber nicht über den Gewaltpegel, sondern ist eine faszinierende Reise in die Vergangenheit, geradeso, als würde man einen obskuren Film aus den späten 1970er Jahren sehen, von dem man einfach noch nie gehört hat.
Peter Osteried