Zu jeder Zeit

Zum Vergrößern klicken

Aufmerksam, warmherzig und kunterbunt wie das Leben - so könnte die Überschrift lauten zum Werk des französischen Dokumentaristen Nicolas Philibert, der mit SEIN UND HABEN (2007) auch in deutschen Kinos erfolgreich war. Diesmal geht es nicht in eine Dorfschule, sondern in ein Krankenhaus bei Paris. Im Mittelpunkt stehen Pflegerinnen und Pfleger in der Ausbildung sowie ihre Lehrkräfte. Und wie von Nicolas Philibert nicht anders zu erwarten, dominiert auch hier die Lebensfreude, es gibt unverhoffte Einblicke, und die offene Sympathie für das Multi-Kulti-Pflegepersonal der Klinik weht wie ein frischer Frühlingswind durch den Film.

Webseite: www.facebook.com/ZUJEDERZEIT/

Originaltitel: De chaque instant
Dokumentation
Frankreich 2018
Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Nicolas Philibert
105 Minuten
OmU, Originalsprache: Französisch
Verleih: mindjazz pictures
Kinostart: 2. Mai 2019

FILMKRITIK:

Der französische Originaltitel bedeutet wörtlich übersetzt „Jeden Moment“ oder „In jedem Augenblick“ – und damit trifft er die Situation perfekt: Jeden Moment kann es jeden treffen. Plötzlich krank, womöglich lebensbedrohlich, und schon ist man auf die Hilfe von anderen angewiesen. Oder es geht um Mutter, Vater, Bruder, Freundin … vor ein paar Minuten war die Welt noch in Ordnung und nun ist man auf dem Weg in die Klinik. Andererseits müssen Menschen, die in der Pflege arbeiten, jeden Moment wachsam sein, sich auch in schwierigen Situationen immer an die richtigen Handgriffe und die erlernten Abläufe erinnern, jeden Augenblick müssen sie konzentriert bleiben, trotz Stress durch zu wenig Zeit und zu vielen Patienten. Nicolas Philibert hat es selbst erlebt. Als Notfall landete er eines Tages im Krankenhaus, und kaum hatte er sich erholt, wusste er: Darüber mache ich einen Film. Und so geschah es.
 
Diesmal zeigt der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilmer seinem Publikum eine neue Welt, die eigentlich ganz offen für alle, aber dennoch verborgen im Alltag liegt: ein Krankenhaus, bestehend aus Untersuchungszimmern, Operationssälen, Intensivstation, Psychiatrie, Kantine, Patientenzimmern, Aufwachräumen und … Achtung, jetzt kommt’s! – einer Krankenpflegeschule. Hier geht es meistens deutlich lebhafter zu als auf der Station oder im OP. Die künftigen Pflegerinnen und Pfleger sind mit Spaß und Eifer bei der Sache. Sie lassen sich weder von Rückschlägen noch von Fehlern unterkriegen, und es wird viel gelacht bei den „Trockenübungen“ bei den Injektionen in den Gummihintern, beim Training mit Babypuppen und bei der Herzmassage am Kunststoffkissen. Im zweiten Teil zeigt Nicolas Philibert dann, wie es richtig zur Sache geht: die erste Arbeit am und mit den Patienten. Jetzt werden die in der Theorie und in vielen Übungsphasen vorbereiteten Pflegeschüler auf lebendige Menschen losgelassen; natürlich unter Aufsicht. Das läuft mal besser, mal schlechter – teilweise entstehen witzige Situationen, in denen die Patienten ihrem Namen alle Ehre machen. „patiens“ heißt nicht nur „leidend“, sondern auch „geduldig“, und hier sieht man deutlich, wozu sie diese Geduld brauchen. Wenn ein junger Pfleger zum ersten Mal einen Verband anlegt oder eine Pflegerin einen Gips aufschneidet, dann hilft manchmal nur Humor und gemeinsames Lachen. Doch wenn eine ganze Gruppe vollkommen aufgelöster Jungpfleger eine Patientin eher belästigen als retten, die möglicherweise einen Herzinfarkt hat, dann kann man nur hoffen, dass die Szene gestellt war. Der dritte Teil ist dann den Pflegerinnen und Pflegern gewidmet. Er besteht aus Interviews, in denen sie mit ihren Anleiterinnen über das Praktikum sprechen. Da fließen manchmal Tränen, einige nehmen sich die Erfahrungen sehr zu Herzen, andere wieder sprechen darüber, wie glücklich sie waren, einen Sterbenden in den letzten Stunden begleiten zu dürfen. Manch einer fühlte sich überfordert oder gemobbt, doch die meisten wirken zufrieden. Die Anleiterinnen lassen sie ausführlich zu Wort kommen, sie unterbrechen kaum, stellen ruhige Fragen. – Da bleibt nur zu hoffen, dass es auch in Deutschland in der Pflegeausbildung so freundlich und aufmerksam zugeht wie in Frankreich.
 
Nicolas Philibert gewährt dem Publikum ungewöhnliche Einblicke in den Pflegealltag, die einerseits oft humorvoll sind, andererseits aber auch den Ernst des Berufes zeigen. Das erreicht er zum einen durch die inhaltliche Konzentration auf die Auszubildenden und ihre Lehrkräfte, zum anderen aber auch durch eine extrem minimalistische Umsetzung. Es gibt keine Filmmusik, eine formal recht strenge dreiteilige Dramaturgie, und sämtliche Mitwirkende – oft auch in kleineren oder größeren Gruppen – werden nicht namentlich benannt. Erst im Nachspann werden die zahlreichen Protagonisten erwähnt, ohne dass es eine Möglichkeit gibt, sie zu identifizieren. Lediglich zufällig erfährt man mal einen Namen. Dadurch wirkt die Szenerie noch natürlicher, noch glaubhafter, noch weniger sensationslüstern. Es scheint, als würde Nicolas Philibert nur die Kamera hinhalten, und alles andere ergibt sich von selbst. Auffällig ist der hohe Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule – sicherlich kein Zufall, denn die Krankenpflege bietet ansonsten unterprivilegierten Randgruppen die Chance auf einen Beruf, der eine hohe gesellschaftliche Anerkennung findet, hierzulande ebenso wie in Frankreich. Mindestens ebenso auffällig ist die Harmonie zwischen allen Beteiligten, zwischen den Pflegenden wie auch im Verhältnis zu den Patienten. Es wird viel gelacht in diesem warmherzigen Film, der eindringlich und manchmal sogar ergreifend vom prallen Leben erzählt, von Krankheit, Tod, Geburt – also vom Leben … und vom Optimismus.
 
Gaby Sikorski