Zwei Tage, eine Nacht

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Auf zwei Palmen haben es die Gebrüder Dardenne bereits gebracht. Mit ihrem jüngsten Streich hätte den Belgiern der Hattrick von Cannes gelingen können – doch ihr Drama über Solidarität ging bei der Jury überraschend leer. Vom Publikum indes gab es großen Applaus für diese beglückende Lehrstück über den aufrechten Gang: Der Arbeiterin Sandra droht die Entlassung,  es sei denn, sie überzeugt die Kollegen, auf ihren Bonus zu verzichten. Sein oder Haben? Das ist hier die Frage! Souverän, schnörkellos und spannend wie üblich erzählen die Regie-Brüder ihre Geschichte. Mit Marion Cotillard haben diesmal sie eine oscarreife Darstellerin. Makelloses Kino mit humanistischem Mehrwert – ohne moralischen Zeigefinger! Einer der ganz wichtigen Filme in diesem Jahr.

Webseite: www.alamodefilm.de

Belgien, Frankreich, Italien 2014
Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Pili Groyne
Filmlänge: 95 Minuten
Verleih: Alamode
Kinostart: 30.10.2014

FILMKRITIK:

"Wird Mama wieder krank, wenn sie den Job verliert?" fragen die beiden Kinder den ohnmächtigen Vater. Seine Frau Sandra (Marion Cotillard) litt an Depressionen und hat die Krankheit längst nicht überwunden. Nun droht neues Ungemach: Sandra soll entlassen werden, es sei denn, sie überredet die Belegschaft, auf den versprochenen Bonus von 1.000 Euro zu verzichten. Ein Wochenende gibt ihr der Chef für diese entwürdigende Mission Zeit. Mit Hilfe von Tabletten macht sie sich auf den beschwerlichen Weg, all ihre 16 Kollegen abzuklappern. Denen steht finanziell freilich das Wasser bis zum Hals, den Bonus haben sie längst einkalkuliert, der Verzicht wäre ein Fiasko. "Das kann ich mir nicht leisten", hört Sandra von den ersten beiden Kollegen, die beste Freundin macht erst gar nicht die Türe auf. Dann ein kleiner Hoffnungsschimmer, ein vierter Mitarbeiter verspricht, für sie abzustimmen.
 
Immer wieder verliert die Heldin die Kraft, für den entmutigenden Kampf um ihre Würde. Ihr Mann unterstützt Sandra so gut er kann. Aber was soll sie den Kollegen sagen, die dringend auf den Bonus angewiesen sind? Bekanntlich kommt erst das Fressen, dann die Moral. Die depressive Stimmung führt schließlich zum Suizidversuch der zweifachen Mutter. So tragisch diese Szenen, so
unsentimental und punktgenau, fast wie in einem Thriller, werden sie von den Regie-Brüdern mit leichtem Federstrich inszeniert. Ähnlich lässig gelingen jenen Sequenzen, in denen sich eine Kollegin endlich von ihrem aggressiven Ehemann trennt. Das Motto der Dardennes lautet einmal mehr: Maximaler Minimalismus. Die dramaturgische Bilanz: Stimmig. Präzise. Bewegend.
 
Erstmals spielt mit Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard ein großer Star im Dardenne-Universum, das bislang mit eher unbekannten Darstellern bevölkert war. Die Glamour-Schauspielerin, die gerne die Titelseiten von Klatsch-Magazinen ziert, als gebrochene Arbeiterin? Es funktioniert tatsächlich! Von der ersten Minuten nimmt man der Cotillard diese Rolle ab. Mit einer exzellenten tour-de-force der Gefühle verkörpert sie die fragile Heldin, die aller Rückschläge zum Trotz nicht aufgibt.
 
Völlig kitschfrei, schlicht und ergreifend wie üblich, erzählen die Regie-Brüder ihr Lehrstück vom aufrechten Gang, bei dem man sich bisweilen an "Die zwölf Geschworenen" erinnert fühlt. Mit ihrer Handkamera sind sie stets ganz nahe dran an ihren Akteuren und dem Leben. Wie die Abstimmung der Arbeiter ausgeht? Ob es der Film überhaupt verrät oder das Ergebnis zum Spekulieren offen lässt? Nur soviel sei gesagt: Dieses  Finale hat es in sich. Der Überraschungseffekt wurde mit viel Szenenapplaus belohnt.

Dieter Oßwald