Zwischen Uns

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Kinder mit Asperger-Syndrom mögen keine lauten Geräusche. Das hat sich Regisseur Max Fey bei seinem Debüt zu Herzen genommen. Sein leiser, wunderbar einfühlsamer Film erzählt von der ebenso schwierigen wie berührenden Beziehung zwischen einer allein erziehenden Mutter und ihrem autistischen Sohn. Zwei herausragende Hauptdarsteller laden das Publikum ein, einen ungewöhnlichen, aber auch außerordentlich bereichernden Alltag kennenzulernen.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Deutschland 2021
Regie: Max Fey
Drehbuch: Max Fey, Michael Gutmann
Darsteller: Liv Lisa Fries, Jona Eisenblätter, Thure Lindhardt, Lena Urzendowsky, Corinna Harfouch

Länge: 86 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 16. Juni 2022

FILMKRITIK:

Ein Lämmchen, ganz schwach und hilflos. Felix (Jona Eisenblätter) trägt es auf seinem Arm, sehr liebevoll und umsichtig. Der 13-Jährige hat einen Draht zu Tieren. Er scheint zu wissen, wie es dem kleinen Schaf geht, das blutet und nicht mehr laufen kann. Auch Felix schleppt eine Wunde mit sich herum. Obwohl er außerordentlich introvertiert erscheint, kann er doch fürchterlich ausrasten. Deshalb eckt er überall an, dreimal hat er schon die Schule gewechselt. Am liebsten würde Felix niemandem mehr wehtun. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn der Junge leidet unter dem Asperger-Syndrom. Wird er bedrängt oder aus seinen leicht absonderlichen Gewohnheiten gerissen, spielen seine Neuronen verrückt, der Atem wird kurz, das ganze System schaltet auf Alarm. Jetzt bleiben nur noch zwei Alternativen: Schreien, Schlagen und Zerstören – oder Weglaufen. Beides macht den Alltag in einer Regelschule für Felix zur Hölle.

Gerade die Momente des Ausrastens erinnern an die neunjährige Benni aus „Systemsprenger“ (2019) von Nora Fingscheidt. Aber „Zwischen uns“ erzählt die Geschichte von Felix und seiner allein erziehenden Mutter Eva (Liv Lisa Fries) stiller und behutsamer. Mit gutem Grund: Während alle Hilfsangebote an die Systemsprengerin ins Leere laufen, gibt es hier eine funktionierende Mutter-Sohn-Bindung. Aus Evas Perspektive lernen wir Felix kennen, mit ihr verstehen wir, warum man ihn oft in Ruhe lassen muss, warum er den Blickkontakt vermeidet, fast immer Kopfhörer trägt, und weshalb es für ihn ganz okay ist, der Waschmaschine stundenlang bei ihrer Arbeit zuzusehen. Indem die einfühlsame Kamera von Vasco Viana den Alltag von Felix und Eva begleitet, wirbt der Film um Verständnis für eine Verhaltensauffälligkeit, die aus einer neuronalen Störung des Gehirns resultiert. Er tut dies leise, mit gezielten Leerstellen und ohne dramatische Übertreibung.

Je länger der Film dauert, desto unabweisbarer wird das Gefühl, dass hier jemand einen sehr genauen Blick auf reale Verhältnisse wirft. Regisseur Max Fey greift für sein Spielfilmdebüt auf Schicksale in seinem familiären Umfeld zurück. Er hat zudem jahrelang recherchiert und mit Betroffenen ebenso wie mit Fachleuten gesprochen. Aber das führt glücklicherweise nicht zu übersteigerten Ambitionen. Hier will einer die Dinge zeigen, wie sie sind, aber nicht belehren oder missionieren. Fey und sein Drehbuch-Koautor Michael Gutmann haben ein feines Händchen für die fragile Balance zwischen wichtigen Informationen und den nötigen Leerstellen, die das Publikum schon selbst ausfüllt, wenn man ihm nicht das Schlussfolgern abnimmt. Es ist, als behandele der Film seine Zuschauerinnen und Zuschauer genauso einfühlend, wie Eva auf ihren Sohn eingeht: verständnisvoll, aber zur Selbstständigkeit motivierend.

So entsteht ein ebenso komplexes wie feinfühliges Bild von der Beziehungsdynamik zwischen zwei Menschen, die einander bedingungslos lieben und dennoch, wie unter einem Zwang, voneinander wegdriften. Der Film hätte leicht in ausgetretene Pfade abbiegen können, zum Beispiel, als mit Nachbar Pelle (Thure Lindhardt) eine Art Naturtalent im Asperger-Verstehen in Felix‘ und Evas Leben tritt. Oder als die überaus bemühte Einzelbetreuerin Elena (Lena Urzendowsky) sogar auch dann noch zu dem Jungen hält, als er sie bei einem Wutanfall schwer am Fuß verletzt. Aber „Zwischen uns“ besteht auf einer Genauigkeit, die nicht zugunsten einer Art Wohlfühlkino geopfert wird. Das heißt aber nicht, dass der Film nur alles grau in grau malt. Gerade weil er seine bunten Farben so zielsicher aufträgt, leuchten sie umso heller.

 

Peter Gutting