CHRISTIAN BRÄUER: „WIR VERMISSEN PERSÖNLICHE BEGEGNUNGEN UND GEMEINSAME ERLEBNISSE“

AUSGABE 7 – EUROPEAN FILM ACADEMY
als PDF hier… (Seite 16)

Christian Bräuer ist Vorstandsvorsitzender der CICAE (International Confederation of Arthouse Cinemas), einer gemeinnützigen Vereinigung zur Förderung der kulturellen Vielfalt in Kinos und Festivals. CICAE vereint mehr als 4.000 Leinwände über 11 nationale und regionale Strukturen, 40 unabhängige Kinos als Einzelmitglieder und 22 Festivals in 49 Ländern.Bräuer ist auch Geschäftsführer der Yorck-Kinogruppe, bestehend aus 11 Kinos und einem Open-Air-Kino in Berlin. Er ist Präsident der AG Kino – Gilde und vertritt die Interessen der Kinos im Vorstand der Filmförderungsanstalt (FFA); außerdem ist er in deren Beirat für europäische und internationale Projekte.

Wie sehen Sie Kinos und Streaming-Plattformen im Dienste des Publikums in der Zukunft?

Streaming ist im Moment allgegenwärtig, dennoch bin ich sehr optimistisch, was die Zukunft des Kinos angeht. Der kulturelle Ort Kino ist ein simultanes Erlebnis in einem gemeinsamen, analogen Raum. Und auch wenn wir Filme streamen oder mit Freunden per Videochat kommunizieren können, spüren wir alle, wie sehr wir persönliche Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse gerade jetzt vermissen. Die Nachfrage und das Feedback unseres Publikums nach der Schließung des Kinos hat deutlich gezeigt, dass sie Streaming nicht als Ersatz für das Kinoerlebnis sehen. Ich denke, eine wichtige Veränderung für die Kinos ist, dass viel mehr Planung und Buchung online und im Voraus stattfindet, so dass eine verstärkte digitale Präsenz wichtiger denn je sein wird. Kinos sind auch weiterhin von herausragender Bedeutung für die Filmindustrie und die filmkulturelle Vielfalt.

Glauben Sie, dass Kinos und Plattformen bessere Wege finden können, um zusammenzuarbeiten oder zumindest zu koexistieren?

Ich glaube, dass beide gut koexistieren können und es auch schon tun. Wir haben in den letzten Jahren viel über die Strategie einer einzigen globalen SVOD-Plattform gehört, aber im Allgemeinen kennen die Plattformen den Wert eines Kinostarts. Ein gut vorbereiteter Kinostart führt dazu, dass Filme in allen nachfolgenden Vertriebskanälen gut abschneiden, egal ob es sich um Streaming, Fernsehen oder etwas anderes handelt. Die Rolle des Kinos als Kurator und Marke wird entscheidend werden, da der Content-Overflow im Internet mehr und mehr zu einem Gefühl der „Analyse-Lähmung“ führt – das Gefühl, durch den Feed zu scrollen. Das ist eine große Chance für die Kinos in unserem herausfordernden Metier, das zunehmend von globalen Giganten dominiert wird.

Was denken Sie, was die Branche in Bezug auf das heutige Publikum falsch macht?

Das junge Publikum als verlorenen Fall für das Kino zu sehen, weil es viel am Telefon ist. Es gibt eine ganze Generation, die auf TikTok aufwächst, eine Plattform, die von ihren Machern gute Fähigkeiten in den Bereichen Schreiben, Schnitt und Regie verlangt. Es ist eigentlich gar nicht so schwer, sie für die Kunst des Kinos zu begeistern, und ich sehe viele innovative Ansätze zur Entwicklung eines jungen Publikums. Aber im Allgemeinen haben wir nicht genug Filme und Programme, um sie regelmäßig zu beschäftigen.

Glauben Sie, dass sich die Pandemie langfristig auf das Publikumsverhalten auswirken wird?

Ich denke, dass die meisten Trends, die sich wie Veränderungen durch die Pandemie anfühlen, sowieso passiert wären, aber durch die Pandemie nur beschleunigt wurden. Eine lebendige Nachbarschaft mit vielfältigen Kulturangeboten wird sicherlich in der Wertschätzung der Menschen zunehmen. Wenn das alles vorbei ist, werden sich die Menschen nicht nur darauf freuen, endlich wieder auszugehen, sondern sie werden beim Kinobesuch ein besonders tolles Erlebnis erwarten, das ihre Zeit und ihr Geld wert ist, von einem tollen Film bis hin zu einem großartigen Service. Das ist bei weitem kein neuer Trend, aber ich denke, die Menschen werden viel nachsichtiger sein, wenn sie enttäuscht werden.

Was begeistert Sie an der Zukunft des Filmverleihs und der Filmvorführung?

Es gibt eine neue Generation von digitalen Filmfans. Zu sehen, wie sich auf Plattformen wie Letterboxd Fangemeinden um Filme wie PARASITE, SYSTEM SPRENGER, THE FAVOURITE, PORTRAIT OF A LADY ON FIRE oder CALL ME BY YOUR NAME bilden, ist aufregend und ein Beweis dafür, dass das Kino lebt und sich bewegt. Die siebte Kunstform bietet so viele unglaubliche künstlerische und technische Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Die Menschen lieben Geschichten, die mit Talent und Sensibilität erzählt werden – und mit der einzigartigen und maximalen Wirkung des Kinoerlebnisses. Es ist schwer zu vergessen, was für eine globale Sensation PARASITE war, und die gemeinsame Anstrengung von Festivals, Verleihern und Kinos hat einen so entscheidenden Weg dafür gespielt. Ich bin gespannt, was als nächstes kommt.