Corpus Christi

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Das polnische Kino ist traditionell gut für rigorose Arthaus-Filme. Nach Polanski, Kieślowski oder „Ida“ Oscar-Preisträger Pawlikowski, präsentiert sich nun Jan Komasa, 38, als hochkarätiges Regie-Talent - auch er bereits auf Oscar-Kurs! Seine Story vom religiösen Knacki, der nach der Entlassung als vermeintlicher Pfarrer auf die Kanzel einer Kirche in der Provinz steigt, klingt schlicht. Doch sie ist enorm ergreifend. Und kommt mit einer dramaturgischen Wucht daher, die einen zunehmend tiefer in den Kinosessel versinken lässt. Liebe, Glaube, Hoffnung als spannender Thriller verpackt. Doppelmoral, Korruption samt der Untiefen menschlichen Handels könnten als Themen philosophischer Seminare taugen. Hier präsentieren sie sich als packendes Drama mit Wow-Effekt. Einen Gewaltverbrecher mit solch unaufdringlicher Empathie und Ambivalenz zu präsentieren, darf als schauspielerische Meisterleistung gelten. Prompt wurde Bartosz Bielenia zum European Shooting Star gekürt.

Webseite: www.arsenalfilm.de

Polen 2019
Regie: Jan Komasa
Darsteller: Bartosz Bielenia, Aleksandra Konieczna, Eliza Rycembel
Filmlänge: 116 Minuten
Verleih: Arsenal Filmverleih
Kinostart: 3. September 2020

AUSZEICHNUNGEN:

Europa Cinemas Label 2019

FILMKRITIK:

„Du kommst aus dem Gefängnis frei“ heißt es für den 20-jährigen Gewaltverbrecher Daniel, weil er sich in der Tischlerei und als Messdiener in der Knast-Kirche gut geführt hat. Auf Bewährung soll er nun in einem Sägewerk in der Provinz anheuern. Eigentlich würde David, mittlerweile sehr religiös geworden, gerne Priester werden. Mit diesem Vorstrafenregister gibt es bei der Kurie jedoch keine Chance auf Vergebung. Wie es das Schicksal will, stolpert der junge Held auf dem Weg zum ungeliebten neuen Job in eine Kirche. Mit seinem Pfarrerkragen, eigentlich nur ein Spaß-Kostüm, gibt er sich spontan als Priester aus. Keiner hegt Zweifel. Für den örtlichen Pfarrer ist David ein Gottesgeschenk, sucht er doch aus Gesundheitsgründen händeringend eine Vertretung. So kommt der junge Hochstapler problemlos in Amt und Würden. Die erste Bewährungsprobe im Beichtstuhl absolviert er problemlos, die passende App im Handy kennt schließlich die richtigen Antworten auf alle Sorgen. Jene besorgte Mutter, die ihr rauchendes Kind geschlagen hat, verblüfft der junge Gottesmann mit einem unkonventionellen Rat: „Kauf ihm stärkere Zigaretten!“.

Seine erste Messe meistert der Hobby-Pfarrer mit gekonnter Improvisation. „Auch Stille kann ein Gebet sein!“ rät er der staunenden Gemeinde. Bei den Kids kommt der coole Gottesmann mit seiner ungewohnt lässigen Art gut an - welcher Priester sagt zum Joint-Angebot schon so begeistert Ja und Amen! Dem Bürgermeister, zugleich Besitzer des Sägewerkes, sind indes nicht nur die radikalen Predigten ein Dorn im Auge. Er will auch unbedingt verhindern, dass ein tragischer Unfall aus der Vergangenheit neu beleuchtet wird und droht mit dem Bischof. „Sie mögen die Macht haben, aber ich habe Recht!“, lautet die Antwort des Unbeugsamen. Der Kampf von David gegen den lokalen Goliath-Bonzen beginnt und er wird alsbald eskalieren.

Bei den Einheimischen verfliegt die anfängliche Begeisterung für den jungen Priester zunehmend, denn anders als sein Vorgänger kümmert er sich um jene Witwe, die im Dorf als Hure verschrien ist und heftig gemobbt wird. Je mehr er sich für sie einsetzt, desto stärker kocht der Volkszorn. „Das ist eine gute Stadt!“ betont jene fromme Frau, die sich freilich als die übelste Hetzerin entpuppt. „Vergeben heißt nicht vergessen. Vergeben heißt lieben!“ - des Priesters Predigt verpufft vergeblich. Als es im Beichtstuhl zu einer Begegnung mit fatalen Folgen kommt, spitzt sich die Situation immer mehr zu. Von allen Seiten attackiert, gerät der Held zunehmend in Zugzwang und in höchste Gefahr.

Mit seinem erst dritten Spielfilm präsentiert sich Jan Komasa als eindrucksvolles Regie-Talent, dessen Stilsicherheit überzeugt. Mit dramaturgischem Minimalismus und maximaler psychologischer Präzision entwickelt sich diese schlichte Story (nach einer wahren Begebenheit!) zum vielschichtigen Drama über existenzielle Fragen von Macht, Moral und Vergebung. Statt der gängigen Saulus-wird-zum-Paulus-Geschichte, hat dieser bekehrte Held durchaus Ecken und Kanten. Bei Prügelorgien im Knast steht er schon mal Schmiere, gibt im Bus den rauchenden Rabauken. Im Pfarrhaus greift er gern zum Schnaps, tanzt Techno und auch Damenbesuch bleibt über Nacht. Im Kern freilich hat David das Herz am rechten Fleck, zeigt ein kompromissloses Gerechtigkeitsgefühl und lässt sich beim aufrechten Gang nicht aufhalten.

Jan Komasa gelingt es mit einem raffiniert konstruiertem Drehbuch, seinen Helden mit zwingender Logik ständig in neue Zwickmühlen und Zwangslagen zu stürzen. Fast unmerklich wird der Zuschauer vom bloßen Betrachter zum mitfühlenden Komplizen dieser Figur. Der dramaturgische Coup gelingt, weil Hauptdarsteller Bartosz Bielenia sich als perfekte Besetzung erweist. Mit umwerfender Intensität und doch völlig unangestrengt, verleiht er diesem David eine Glaubhaftigkeit und Empathie, der man sich kaum entziehen kann.

In seinen komischen Momenten funktioniert dieses beklemmende Drama ebenso makellos wie in den spannenden Szenen, die wie ein Thriller wirken. Die Moral von der Geschicht’ kommt ganz ohne Pathos, fast schon beiläufig daher.

Auf den nächsten Streich von Regie-Talent Komasa darf man gespannt sein: „The Hater“ handelt von Fake News, Stalking und dem Attentat auf liberale Politiker.

Dieter Oßwald