Festivalbericht München 2025

42. Filmfest München 2025

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

 

Wenn daheim die Temperaturen die 30 Grad überschreiten und die Zuschauerzahlen pro Vorstellung meist einstellig sind, dann ist es Zeit, Reißaus zu nehmen und auf dem Münchner Filmfest nach Filmen Ausschau zu halten, die uns einen zuschauerstarken Herbst bescheren mögen. München ist dafür der beste Ort, zwischen Kinosaal und Biergarten gibt es hier nicht nur interessante Filme, sondern auch interessante Gespräche mit vielen Kolleginnen und Kollegen. Und trotz guten Wetters sind die Kinos voll, was ungemein beruhigend ist. Für uns Kinobetreiber zerfällt das Münchner Filmfest in zwei Teile, in den ersten und letzten Tagen versucht man, möglichst viele Premieren mitzunehmen, während in den Tagen dazwischen die Verleiher zu diversen Tradeshows einladen. Danach ist man dann bestens informiert.

Beginnen wir also mit den Premieren: Schon der Eröffnungsfilm war ein wahrer Knaller.

THE BALLAD OF WALLIS ISLAND (UPI) ist der neue Film von James Griffith, einem britischen Regisseur, der sich bisher hauptsächlich mit Fernsehfilmen einen Namen gemacht hat. Sein neuer Film basiert auf einem Kurzfilm, den er 2007 mit Tim Key und Tom Basden gedreht hat, der gut aufgenommen wurde und sogar einen BAFTA als bester Kurzfilm des Jahres gewann. „Es hat 17 Jahre gedauert, die emotionale Kraft für einen Langfilm zu finden“, erklärte der Regisseur bei der Premiere, und Tim Key wies darauf hin, dass Humor hier eine große Rolle spielt. Tatsächlich handelt es sich um ein Feelgood-Movie, das mit einem Feuerwerk an Gags und lakonischen Sprüchen punktet, die so natürlich rüberkommen, dass die Frage auf der Hand lag, wie viele Dialoge geschrieben und wie viele improvisiert sind. „Zum Glück sind wir alle so lustige Gesellen, dass niemand etwas schreiben musste“, antwortete Tim Key, der in England als Komiker bekannt ist und sich diesen Gag wohl nicht verkneifen konnte. Er spielt den zweifachen Lottogewinner und Multimillionär Charles Heath, der sich auf einer kleinen Insel der Inselgruppe Wallis Island im Südpazifik niedergelassen hat. Nachdem er beinahe die ganze Welt besucht hat, ist er des Reisens überdrüssig, doch auf seinem schönen Anwesen auf der malerischen Insel stellt sich bald Langeweile ein. Also engagiert er seinen Lieblingsmusiker Herb McGwyer (Tom Basden) für ein großes Open Air- Konzert, allein der weiß nicht, dass Charles der einzige Zuschauer sein wird. Um nicht ganz allein zu sein, hat er noch Herbs Exfrau und Musiker-Kollegin Nell eingeladen, die vom Carey Mulligan gespielt wird und dem Film weltweite Beachtung garantiert. Was folgt ist ein Crowdpleaser mit vielen Gags, urkomischen Situationen, romantischen Erinnerungen und grandioser Folkmusik, die Tom Basden selbst für den Film geschrieben hat. Auch wenn Carey Mulligan nicht wie geplant nach München kommen konnte und nur eine Video-Grußbotschaft schickte, war dies schon mal ein gelungener Auftakt und danach ging es Schlag auf Schlag weiter.

Am nächsten Tag wurde Stellan Skarsgård mit dem Cinemerit Award geehrt, stand für einen einstündigen Filmtalk im Amerikahaus bereit und begleitete die Premiere seines neuesten Film SENTIMENTAL VALUE (Joachim Trier), der schon in Cannes zu unseren Lieblingsfilmen gehörte und in Deutschland von Plaion in die Kinos gebracht wird.

In Cannes verpasst hatten wir UN POETA (JIP-Film), eine deutsch kolumbianische Koproduktion, die in der Un Certain Regard lief und den Jury-Preis gewann. Nach AMPARO (Critics Week, Cannes 2021) ist dies der zweite Spielfilm des kolumbianischen Regisseurs und Drehbuchautors Simón Mesa Soto. Er erzählt von Oscar, einem Mann in den Fünfzigern, dessen Obsession die Poesie ist. Als Dichter erfolglos, inzwischen sichtbar gealtert und sprunghaft, lebt er wieder bei seiner Mutter und ist dem Klischee des Dichters im Verborgenen erlegen. Er arbeitet an einer Schule und engagiert sich in einem Arbeitskreis für Poesie. Hier will man Schüler mit Talent fördern, und hier begegnet er Yurlady, einem Teenager aus einfachen Verhältnissen, deren Talent er ans Licht bringen will. Tatsächlich gewinnt sie einen Wettbewerb, trinkt aber auf der Sieger-Party soviel Alkohol, dass ihr schlecht wird. Oscar ist der einzige, der sich um sie kümmert und sie im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause schleift. Das bringt ihm eine Anzeige ein. Obwohl Oscar immer nur das Beste für seinen Schützling im Sinn hat, kehren sich die Dinge um. Arbeitskreis und Schule fürchten um ihren Ruf, während die Familie des Mädchens Oscar mit Verdächtigungen überzieht, um ein ordentliches Schmerzensgeld erpressen zu können. Sehr langsam inszeniert und mit einem Antihelden in der Hauptrolle, der wenig sympathisch daherkommt, spiegelt der Film die gesellschaftlichen Verhältnisse in Kolumbien in einer Welt zwischen Fake News und Korruption.

Auch Gillian Anderson wurde mit einem Cinemerit Award geehrt und durfte ihren neuen Film DER SALZPFAD (DCM) von Marianne Elliott im Deutschen Theater vorstellen. In der Bestseller-Adaption spielt sie Moth, die zusammen mit ihrem Ehemann Ray ein englisches Mittelklasse-Paar abgibt, das Haus und Vermögen verloren hat. Statt zu resignieren, machen sie sich, ausgestattet mit Rucksack und Zelt, auf eine lange Reise entlang des South West Coast Path, dem mit rund 1.000 Kilometern längsten Küstenweg Englands. Auf ihrer Reise lassen sie sich weder von einer zuvor erhaltenen deprimierenden ärztlichen Diagnose beirren, noch von Steinen, die ihnen teils wörtlich, teils symbolisch in den Weg gelegt werden. Sie lernen die Natur in all ihren Facetten kennen, begegnen den unterschiedlichsten Menschen und damit auch einem breiten Spektrum menschlicher Verhaltensweisen. Thematisch erinnert der Film an NOMADLAND von Chloé Zhao, in dem Frances McDormand nach dem Tod ihres Mannes Haus und Job verliert und fortan mit einem Van durch Nevada tourt, jeden erdenklichen Job annimmt und auf Menschen trifft, denen sie sich näher fühlt als ihren Nachbarn zuhause. Wenn DER SALZPFAD nur annähernd so viele Besucher erreicht, sollte die derzeitige Kino-Misere schnell beendet sein.

Am nächsten Abend war die Bühne des Deutschen Theaters für Helge Schneider reserviert. Mit THE KLIMPERCLOWN (Filmwelt) legt er seine erste filmische Autobiographie vor, die er zusammen mit seinem Band-Kollegen Sandro Giampietro verwirklicht hat und seinen Fans in der für ihn typischen Manier Einblicke in sein Leben und Wirken gewährt. Dabei wechseln Persönliches und Berufliches miteinander ab. So beginnt alles mit Super 8-Aufnahmen aus seiner Kindheit, was einen chronologischen Ansatz vermuten lässt, der aber schnell verloren geht, springt der Film doch immer mehr hin und her, assoziiert frei wie im Free Jazz und fragt nicht nach guten oder schlechten Szenen. Alles findet hier seinen Platz, nur wahr sollte es sein, und dass die Wahrheit nicht immer spannend ist, bestätigte Helge nach der Vorstellung, wo er sich überrascht vom großen Publikumsinteresse für seine lapidare Lebensgeschichte zeigte. Nach einer kurzen Musikeinlage fand er an seinem Film wohl selbst immer mehr Gefallen, was ihn auf eine Idee brachte: „Eigentlich wollte ich zu meinem 90. Geburtstag einen zweiten Teil drehen, aber jetzt überlege ich, ob ich nicht schon nächstes Jahr mit der Fortsetzung wieder nach München kommen soll.“ Für Fans ein Muss, erklärt der Film nicht unbedingt das Phänomen Helge Schneider, erst der anschließende Bühnenauftritt machte daraus eine sehenswerte Performance. Trotz feststehendem Ausstrahlungstermin am 30.8. im Fernsehen, bietet der Filmwelt Verleih den Film ab 7.8. als ‚alternativ content‘ ohne Mindestgarantie an.

Am nächsten Tag startete dann die Runde der Verleiher-Tradeshows, die der Majestic-Filmverleih mit einem Screening von AUSGSTING eröffnete. Nach Julian Wittmanns Spielfilmdebüt AUSGRISSN im Jahr 2020 kommt nun der Nachfolger in die Kinos. Dabei begibt sich der Regisseur und Drehbuchautor auf eine gemeinsame Reise mit einem wahren Aussteiger. Wolfgang „Gangerl“ Clemens ist über 80 und segelt bereits die Hälfte seines Lebens über die Weltmeere. Mit 40 hatte er Ärger mit Behörden und beschloss, der Zivilisation den Rücken zu kehren und als Langzeitreisender die Welt zu erkunden. Der Film gibt Einblicke in seine Reisen und dokumentiert seine Begegnungen mit indigenen Völkern. Mit Wittmann begab sich Clemens dann auf eine gemeinsame Reise von Bali zu den indigenen Stämmen im Hochland von West-Papua. Im Gepäck hatte der Regisseur auch immer die Frage: Was bringt wahres Glück, Freiheit und Erfüllung?
Nach der Vorführung stellte Benjamin Herrmann von Majestic Julian Wittmann und seinen Bruder Thomas, der den Film produziert hat, sowie Wolfgang Clemens persönlich vor. Sie standen den Gästen für Fragen zur Verfügung. Die Protagonisten gaben zu, dass es am Anfang nicht leicht war, auf so engem Raum zusammenzuleben, aber man habe sich zusammengerauft und dann ein gutes Team abgegeben. Die drei freuen sich schon auf ihre gemeinsame Kinotour, die sie quer durch Deutschland führen soll.

Danach luden Hooman Afshari und Lutz Rippe in den Mathäser-Palast, wo sie nicht nur ihre eigenen kommenden Filme vorstellten, sondern auch die ihrer Partner MUBI und PLAION. So konnte man ein Paket mit vier großen Cannes-Teilnehmern vorstellen, die alle noch bis Ende des Jahres in unsere Kinos kommen und dort für einige Aufmerksamkeit sorgen sollten. Bereits Mitte August geht es los mit Cedric Klapischs DIE FARBEN DER ZEIT, den StudioCanal selbst Mitte August ins Kino bringen wird, gefolgt von Richard Linklaters Crowdpleaser NOUVELLE VAGUE (Plaion), zu dem man Godards AUSSER ATEM (um den es hier geht) für ein Double Feature gleich mitbestellen kann. Mitte Oktober startet dann MUBI THE MASTERMIND von Andrea Arnold und im November kommt Lynne Ramsays Horrorkomödie DIE MY LOVE mit Jennifer Lawrence und Robert Pattinson in den Hauptrollen auf unsere Leinwände. Alle Filme sind in unserem Cannes-Bericht kurz besprochen.

Über vier Stunden dauerte diese Tradeshow und nach einer kurzen Stärkung beim Italiener ging es dann noch ins Deutsche Theater zur Weltpremiere von STILLER, den StudioCanal am 30. Oktober herausbringt. Der Schweizer Dokumentarfilmer Stefan Haupt hat hier einen Klassiker der Weltliteratur verfilmt, bleibt nah am Roman von Max Frisch und setzt ganz auf seine beiden Hauptdarsteller. „Ich bin nicht Stiller“ wiederholt sich Alfred Schuch ein ums andere Mal in diesem Film. Er spielt den Amerikaner James Larkin White, der an der Grenze im Zug festgenommen wird, weil Zeugen in ihm den Schweizer Bildhauer Anatol Stiller wiederzuerkennen glauben. Stiller ist vor sieben Jahren verschwunden, als man ihn gewisser Spionage-Tätigkeiten überführen wollte. White wird vom Staatsanwalt verhört, mit etlichen Fakten und Zeugen konfrontiert, und so verblüffend seine Ähnlichkeit mit jenem Stiller sein mag, beteuert er immer und immer wieder: “Ich bin nicht Stiller”. Erst als er ihn mit seiner Exfrau Julika konfrontiert, bekommt die Sache eine neue Dimension, nähern sich die beiden an mit langen Gesprächen über Eitelkeiten, Verletzungen, Respekt und ob man die Möglichkeit haben sollte, Fehler der Vergangenheit in einem neuen, zweiten Leben vermeiden zu können. Paula Beer spielt die Rolle der Julika, die im Vergleich zum Roman hier mehr Gewicht hat und einen frischen Wind durch den Roman wehen lässt. Zwar galt Frisch als Befürworter der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, konnte sich aber dennoch nicht von seinem patriarchalischen Weltbild lösen, was Margarethe von Trottas Film über Ingeborg Bachmann so treffend beschrieb.

Am nächsten Morgen folgten über 100 Gäste der Einladung der AG Kino-Gilde zum Empfang „Meet the Arthouse Cinemas“. Neben zahlreichen Kinobetreibern und Verleihern kamen auch Filmschaffende, Produzenten, Förderer und Politiker. Auch die künstlerische Leiterin des Filmfests München, Julia Weigl, hatte Zeit für eine Stippvisite gefunden.

Danach ging es weiter mit dem Alamode-Verleih, für den Tobias Lehmann die neuen Filme vorstellte. Besonders stolz war man auf die Akquise von DIE JÜNGSTE TOCHTER, dem neuen Film von Hafsia Herzi, der schon in Cannes mit seinem Einfühlungsvermögen und seiner Warmherzigkeit auffiel und zu Weihnachten in unsere Kinos kommt. Danach zeigte man in voller Länge THE BLUE TRAIL, der Anfang des Jahres auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde und nun unter dem Titel DAS TIEFSTE BLAU in unsere Kinos kommen wird. Er erzählt von der 77-jährigen Tereza, die in einer Industriestadt im Amazonasgebiet lebt. Als sie von der Regierung die offizielle Anweisung erhält, sich bei einer Seniorenkolonie auf dem Land zu melden, wird ihr Widerstand und ihr Freiheitsdrang geweckt. Die alten Menschen sollen in dieser Kolonie ihre letzten Jahre „genießen“, damit sich die junge Generation voll und ganz auf Produktivität und Wirtschaftswachstum konzentrieren kann. Doch Tereza weigert sich, chartet ein Boot, mit dem sie durch das Gebiet des Amazonas und seiner Nebenflüsse fährt, um sich einen letzten Wunsch zu erfüllen. Diese Reise wird Terezas Lebensweg in eine ganz andere Richtung führen.
Der brasilianische Regisseur Gabriel Mascaro nimmt sich ungeheuer viel Zeit für diese Reise und je langsamer sie fortschreitet, desto intensiver kommt sie in die Köpfe der Zuschauer. Ein Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmtheit, auch im Alter.

Nach Mittag ging es dann wieder in den Mathäser-Palast, wo 24 Bilder ihre kommende Staffel vorstellte. Die Trailershow fiel im Gegensatz zu vergangenen Jahren etwas schmaler aus, was der Überlänge des Hauptfilms geschuldet war. Hier war DIE GESANDTE DES PAPSTES zu sehen, der die Lebensgeschichte der italienischen Nonne Francesca Cabrini über zweieinhalb Stunden ausbreitet. Francesca ist jung und motiviert, sie will sich für das Wohl der Kinder engagieren und das nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt, und in China will sie anfangen. Der Bischof hält ihr Engagement für Phantasterei und lehnt ihre Gesuche ab, dennoch gelingt ihr eine Audienz beim Papst, den sie schließlich von ihrem Projekt überzeugen kann. Doch er schickt sie nicht nach China, sondern nach New York, wohin Ende des 19. Jahrhunderts viele Italiener emigriert sind und dort unter elendsten Bedingungen ihr Leben fristen. Genau hier baut sie ihr erstes Waisenheim und bringt ein wenig Menschlichkeit in diesen finsteren Bezirk. Alle Kämpfe mit dem Klerus vor Ort, der Presse und der Bevölerung, die Italiener abfällig als Spaghetti-Fresser bezeichen, und letztlich mit dem ihr nicht wohl gesonnenen Bürgermeister, kann sie letztlich für sich entscheiden und baut ein Imperium von 67 Schulen, Krankenhäusern und Waisenhäusern auf. Ihre Biografie steht exemplarisch für Menschlichkeit, Glaube und den Mut, gesellschaftliche Missstände anzugehen. 1946 wurde sie von Papst Pius XII heilig gesprochen. Leider ist die Inszenierung dieser famosen und bewegenden Lebensgeschichte ein wenig zu theatralisch geraten. Der in Mexiko geborene und in den Vereinigten Staaten aufgewachsene Regisseur Alejandro Monteverde wollte mit seinem Film Francesca Cabrini wohl ein Denkmal setzen. Jedenfalls trägt er allzu dick auf. Doch trotz des ganzen Pathos’ und der vielen Überhöhungen, schimmert die Lebensleistung dieser einzigartigen Frau immer wieder durch. Der Film wurde coproduziert von den umstrittenen Angel Studios, die zuletzt mit der Bonhoeffer-Verfilmung ihrem schlechten Namen alle Ehre machten. Viel Stoff, den man anschließend im Biergarten besprechen konnte.

Zur Tradeshow hatte auch WELTKINO eingeladen. Dort wurde kein eigener Film in voller Länge gezeigt, sondern ausschließlich Trailer der neuen Produktionen. Die beiden Geschäftsführer Michael Kölmel und Dietmar Güntsche führten durch das Programm. Vorgestellt wurde unter anderem RAVE ON. Der Hauptdarsteller Aaron Altaras kam persönlich auf die Bühne und berichtete vom Dreh. Auch zum zweiten Trailer ZWEITLAND gab es einen Gast: Regisseur Michael Kofler, der selbst in Südtirol aufgewachsen ist und sich sehr über die Weltpremiere des Films auf dem Filmfest München freute. Danach wurde eine reichhaltige Staffel vorgestellt mit Trailern von IT TAKES TWO TO TANGO, ZWEIGSTELLE, LOLITA LESEN IN THEHERAN, WENN DER HERBST NAHT, FATHER MOTHER SISTER BROTHER, DREAMS, KALTER HUND, PILLION und OOH LA LA.

Danach zeigte DCM Trailer von DER SALZPFAD, KUNG FU IN ROM und DAS VERSCHWINDEN DES DR. MENGELE, wonach SORRY, BABY in ganzer Länge zu sehen war. Das mit dem Drehbuchpreis in Sundance ausgezeichnete Erstlingswerk von Eva Victor stellt die Verarbeitung eines sexuellen Übergriffs in den Mittelpunkt. Die Literaturstudentin Agnes beginnt eine Beziehung mit ihrem allseits beliebten Doktorvater, der dies ausnutzt und sie vergewaltigt. Hilfe bekommt sie danach nicht – weder vom sie untersuchenden Arzt noch der Universitätsleitung, der der Fall unangenehm ist und ihn lieber vertuschen will. Halt findet sie jedoch in der Freundschaft zu ihrer Mitbewohnerin Lydia, die jedoch eines Tages mit ihrer Freundin wegzieht und eine Familie gründet. Stattdessen zieht eine kleine Katze bei ihr ein, die ihr Halt gibt. Trotz des schwierigen Themas gelingt es Eva Victor, die selbst die Hauptrolle übernommen hat, immer wieder lustige Elemente in ihr Werk einzubauen, die dem Film die Schwere nimmt. Die Handlung wird nicht linear erzählt, ist aber gut nachvollziehbar und klug konstruiert. Das Ganze erinnert ein wenig an Greta Gerwig, die ähnliche Porträts von Frauen einer bestimmten Generation in der Großstadt geschaffen hat. Eva Victor Film spielt jedoch in einer amerikanischen Kleinstadt und weiß die Unterschiede und Nuancen ausgesprochen sensibel und einfühlend auszuloten.

Vor der Tradeshow von Alpenrepublik stellte Lysanne Windisch von MUBI deren Neuerwerbungen aus Cannes vor. Allen voran der Gewinner der Goldenen Palme EIN EINFACHER UNFALL von Jafar Panahi, wie auch Lynn Ramseys postnataler Psychothriller DIE MY LOVE und THE MASTERMIND von Kelly Reichardt. Schade, letzteren hätten wir gerne in ganzer Länge gesehen.

Mit TONI UND HELENE hatte der Verleih Alpenrepublik im letzten Jahr einen kleinen Arthaus-Hit gelandet, was sie auf die Idee gebracht haben mag, dem Sujet der Tragikomödie mit älteren Frauen treu zu bleiben. Nach der ehemaligen Theater-Diva Helene, die sich von einer Zufallsbekanntschaft in eine Schweizer Sterbeklinik chauffieren ließ, folgt nun Elli, die gerade ihre Brustkrebs-Chemotherapie hinter sich gebracht hat. Um sie wieder aufzubauen, haben ihre Freundinnen Astrid und Isabella kurzerhand einen Kurzurlaub auf einem Campingplatz in der Steiermark gebucht. Doch so ganz rund läuft die Sache nicht. Elli hat noch mit Stimmungsschwankungen zu kämpfen, Astrid nervt mit ihrem Nachhaltigkeitsfimmel, und Isabellas Affinität zum Alkohol und dem anderen Geschlecht hellt auch nicht die Stimmung auf. Noch dazu regnet es in Strömen, die Heizung des Wohnwagens ist kaputt und der einzige Gast ist ein rassistischer Dauercamper mit einem deutschen Schäferhund, der alle vor Flüchtlingen und anderem Gesindel beschützen soll. Doch wie es der Zufall will, fällt dem Trio eine Art Erbschaft in die Hände, die es ihnen ermöglicht, nach Venedig weiterzufahren und dort im teuersten Hotel auf dem Lido abzusteigen.

Pia Hierzegger, die Lebensgefährtin von Josef Hader, hat ALTWEIBERSOMMER inszeniert, und wenn die Ausgangslage im Gegensatz zu TONI UND HELENE wesentlich positiver ist, bleibt der Film eher düster. Das Wetter spielt nicht mit und ansonsten haben alle mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen. So ist selbst Venedig nicht das Ziel aller Träume, sondern eher Reflexionsort, wo man darüber nachdenkt, ob man den richtigen Wünschen nachjagt und was man vom Leben noch erwarten darf. Obwohl sehr warmherzig und sympathisch erzählt, bremst sich der Film immer wieder selbst aus und findet nicht das rechte Tempo.

Die Verleiher-Tradeshows beschloss dann DCM mit dem Cannes-Beitrag DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE, der im Oktober in unsere Kinos kommt. Abgesehen davon, dass der russische Regisseur Kirill Serebrennikov das Schicksal des Todesengels von Auschwitz als überlange Oper inszeniert, hat man gelegentlich das Gefühl. dass er Mitleid mit dem Kriegsverbrecher hat. Jedenfalls stellt er seine Flucht und sein Untertauchen in Südamerika als nicht enden wollenden Alptraum dar, der den Nazi-Arzt keine Nacht mehr schlafen lässt. Seine Angst vor Entdeckung steigert sich zu einer handfesten Psychose.

Damit hatte uns das Filmfest zurück, das in den letzten Tagen nicht mehr mit großen Premieren aufwartete, sondern mit Preisverleihungen, die zum Teil auffallend hoch dotiert waren. So lassen sich die Stifter den Förderpreis Neues Deutsches Kino 70.000 Euro kosten. Dafür wird er dann in vier Kategorien vergeben. Für die Beste Regie wurde Christina Tournatzés KARLA (Eksystent) ausgezeichnet. Nicht zu Unrecht, gelang es der Fernsehproduktion doch das zu schaffen, was Kino ausmacht: eine Geschichte mit Bildern zu erzählen, über die die Protagonistin nicht reden kann. Und da sind wir schon beim zweiten Glücksfall dieses Films, seine Protagonistin: Elise Krieps war 14 Jahre alt, als sie den Film drehte. Sie ist die Tochter von Vicky Krieps, und die Schauspielerei scheint ihr in die Wiege gelegt. Jedenfalls ist sie beinahe in jeder Szene des Films zu sehen und muss ihn ganz allein tragen.

Nach etlichen Übergriffen entschließt sich Klara, ihren gewalttätigen Vater anzuzeigen. Auf dem Polizeirevier will sie ihn aber nicht als Täter benennen, und als die Polizeibeamten sie nach Hause schicken wollen, pocht sie auf ihr Recht und verlangt nach einem Richter. Doch auch dem will sie Ross und Reiter nicht nennen. Es sind die sechziger Jahre, und von solchen Fällen hat man zwar schon gehört, aber vor Gericht landen sie in der Regel nicht. Dafür gibt es zu wenig Fakten und schon gar keine Beweise. Die Hartnäckigkeit des Mädchens beeindruckt jedoch den Richter, und irgendwann beginnt er ihr zu glauben. Karla kann über viele Dinge, die sie beklagt, nicht reden, die Stimme versagt, Tränen kullern über ihr Gesicht oder eine Panikattacke lässt sie Reißaus nehmen. Ganz allmählich entwickelt der Richter eine Kommunikationsmethode, die eine Verständigung zwischen den beiden ermöglicht. Doch vor Gericht wird ihm all das nichts nützen. Hier zählen nur Fakten und Glaubwürdigkeit, und die sprach man jungen Frauen zu jener Zeit generell ab und ging lieber davon aus, dass sie nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Regisseurin Christina Tournatzẽsder nimmt uns mit in diese Zeit der Klischees und Vorurteile, zeigt uns minutiös den Verlauf von Ermittlungen und Prozess und stellt die Justiz immer wieder in Frage. Auch wenn man selber manchmal den Eindruck hat, dass es zu dieser Zeit einfacher war, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, zeigt sie, dass man damals nicht so genau hingeschaut hat, was die Welt einfacher machte als heute.

Die restlichen Preise für beste Produktion, das beste Drehbuch und die beste darstellerische Leistung gingen alle an SECHSWOCHENAMT von Jacqueline Jansen. Das autofiktionale Debüt schildert den schwierigen Prozess der Trauerbewältigung. Gleich zu Beginn stirbt die Mutter der Protagonistin Lore in einem Hospiz. Es ist gleichzeitig der Beginn der Corona-Pandemie, die besondere Herausforderungen bereit hält. Die größte Herausforderung stellt für Lore aber ihre Umwelt dar, die sie wenig unterstützt. Ihre Schwester lässt sich nicht blicken, der Pfarrer haut sie übers Ohr bei der Wohnungsauflösung, ihre Großmutter torpediert ihre Bemühungen um eine würdige Bestattung jenseits gesellschaftlicher Konventionen. Der Film spielt in Erkelenz, der Heimatstadt der Regisseurin. „Ich möchte Menschen aller Altersgruppen dazu ermutigen, die große Distanz aufzuheben und das komplizierte Verhältnis, das wir zum Tod und zum Sterben haben, zu hinterfragen“, sagt Regisseurin Jacqueline Jansen selbst über ihren Spielfilm-Erstling. Selten wirkt ein Film so persönlich und authentisch wie diese Arbeit, die die stille Verzweiflung ebenso vermittelt wie das Aufbegehren gegen Bürokratie und Gleichgültigkeit.

Am Abschlusstag konnten wir dann noch drei Filme nachholen, die wir in Cannes verpasst haben. URCHIN ist das Regiedebüt des britischen Schauspielers Harris Dickinson, war in diesem Jahr in Cannes in der Un Certain Regard zu sehen und gewann dort den FIPRESCI-Preis. Drogen, Gewalt, Knast bestimmten bisher das Leben von Mike. Der seit Jahren obdachlose junge Mann will endlich sein Leben in den Griff bekommen. Doch seine selbstzerstörerische Art funkt ihm immer wieder dazwischen.
Mit viel Einfühlungsvermögen folgt Dickinson seinem Protagonisten durch die täglichen Abgründe und zeigt, dass er es wirklich schaffen will, am Ende aber immer wieder an sich selbst scheitert. Der Film ist genauso überzeugend und glaubwürdig, wie er den Zuschauer ratlos stimmt, bleibt am Schluss doch nur die Erkenntnis, dass man solchen Menschen nicht helfen kann, nicht als Einzelner und auch nicht als Staat. Eine etwas unbefriedigende Erkenntnis, mit der man das Kino verlässt.

Ebenso in Cannes verpasst hatten wir WENN DER HERBST NAHT (Weltkino), den neuen Film von François Ozon. Die über 80-jährige Hauptdarstellerin Hélène Vincent hatte für München gleich zwei Filme im Gepäck, war sie doch auch in BON VOYAGE, MARIE von Enya Baroux als Hauptdarstellerin zu sehen. In Ozons Werk spielt sie Michelle, die in einem kleinen Örtchen in Burgund lebt. Dort bewohnt sie ein wunderschönes kleines Haus mit großem Garten, ihre beste Freundin ist ihre Nachbarin Marie-Claude, deren Sohn Vincent zurzeit im Gefängnis sitzt. Zu Beginn des Films wartet sie voller Vorfreude auf das Eintreffen ihrer Tochter Valérie und ihres 12-jährigen Enkels Lucas, der die Ferien bei ihr verbringen soll. Doch es kommt anders. Zum Abendessen gibt es ein Gericht mit selbst gesammelten Pilzen aus dem Wald, das für Valérie beinahe tödlich endet. Valérie bezichtigt ihre Mutter eines Mordversuchs, reist wütend ab und nimmt Lucas mit. Fortan verbietet sie den Kontakt zwischen ihm und seiner Großmutter, worüber diese untröstlich ist. Als Vincent aus dem Gefängnis entlassen wird, bietet sie ihm einen Job als Gärtner in ihrem Garten an, was der gerne annimmt. Als er sieht, wie unglücklich sie über die Trennung von ihrem Enkel ist, besucht er Valérie, um sie umzustimmen. Doch das hat weitreichende Folgen. Mit seiner munteren Mischung aus Krimi und Komödie schafft Ozon ein liebevoll inszeniertes, unterhaltsames Werk, das bis zum Schluss spannend bleibt. Dabei arbeitet er vor allem mit Andeutungen, die dem Zuschauer Raum für Interpretation und das Geschehen immer wieder in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Auch Christian Petzold kam persönlich nach München, um seinen Film MIROIRS No. 3 vorzustellen. Auch der war in diesem Jahr schon in Cannes zu sehen und war nun als Abschlussfilm nach München berufen. Während eines Ausflugs aufs Land überlebt die Berliner Studentin Laura einen schweren Autounfall ohne größere Verletzungen, während ihr Freund zu Tode kommt. Betty, eine Frau aus der Gegend, hat den Unfall beobachtet und bietet ihr an, zunächst in ihrem nahe gelegenen Haus unterzukommen, um den ersten Schock zu überwinden. Liebevoll kümmert sie sich gemeinsam mit ihrem Mann und Sohn um sie, doch die vermeintliche Idylle täuscht. Nicht nur Laura muss sich ihrer Vergangenheit und den eigenen inneren Verletzungen und Verlusten stellen. Wie immer präzise und elegant mit einem hervorragenden Ensemble (Paula Beer, Barbara Auer, Matthias Brand, Enno Trebs) inszeniert, überzeugte Petzold mit seinem stillen Melodram, das die verborgenen Wunden seiner Protagonisten aufreißt und uns tief in ihre Psyche blicken lässt.

Damit ging das 42. Filmfest München zu Ende und zählte immerhin 91.000 Besucher, 30 Prozent mehr als im Vorjahr. Mag sein, dass ein Großteil der zusätzlichen Besucher dem Umstand geschuldet war, dass erstmals auch Fachbesucher mitgerechnet wurden, was aber nicht nur ein Zahlentrick war. Tatsächlich ist es den Festivalleitern Christoph Gröner und Julia Weigl gelungen, Branche und Publikum in den Kinos immer mehr zusammenzuführen, was nicht nur an diversen Panels und Podiumsdiskussionen zu erkennen war, sondern vor allem daran, dass sowohl Publikum als auch die Branche Zugang zu allen großen Premieren hatten und nicht mehr wie in früheren Jahren in getrennten Veranstaltungen.

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