We almost lost Bochum

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Die Ruhrpott AG, kurz RAG, gehörte zu den wichtigsten deutschen Rap-Gruppen der 90er-Jahre. Doch nur eingefleischten Hip-Hop-Kennern ist die Band ein Begriff. Während Formationen wie Fünf Sterne Deluxe, Freundeskreis oder die Beginner populär wurden, blieb für RAG der große Durchbruch aus. Wieso war das so? Und: Was ist aus den Bandmitgliedern von einst geworden? Diesen und anderen Fragen geht die hochinformative, faktenreiche und gänzlich ungeschönte Doku „We almost lost Bochum“ nach, die im Grunde eine bewegende Geschichte über Freundschaft, Verlust, Heimat und Vergangenheits-bewältigung erzählt.

Website: www.wealmostlostbochum.de

Deutschland 2019
Regie: Julian Brimmers & Benjamin Westermann
Darsteller: Gabriel Saygbe, Karsten Stieneke
Pahel Schulinus, Jan Delay, Kool Savas, Marteria, Stephan Szillus
Länge: 100 Minuten
Kinostart: 10. September 2020
Verleih: Mindjazz Pictures

FILMKRITIK:

Sie war nie Teil des Mainstreams, übte aber dennoch einen enormen Einfluss auf die Entwicklung des Deutschrap aus: die Bochumer Hip-Hop-Formation Ruhrpott AG (RAG). Und das, obwohl die Rapper Aphroe, Pahel und Galla (2011 verstorben) sowie DJ/Produzent Mr. Wiz von 1996 bis 2003 lediglich zwei Alben veröffentlichten. Die allerdings als stilbildend gelten. Die Filmemacher Julian Brimmers und Benjamin Westermann gehen zurück zu den Anfängen und treffen die Ex-Bandmitglieder, die 20 Jahre nach Veröffentlichung des Debütalbums („Unter Tage“) Bilanz ziehen.

Man merkt Brimmers und Westermann von der ersten Minute die Liebe zum Sujet und das Interesse an den Porträtierten an. Dabei halten sie sich jederzeit angenehm zurück und greifen nicht aktiv in das Geschehen ein, sondern lassen ihre Protagonisten ausführlich berichten – auch an den Original-Wirkungsstätten und früheren Wohnorten. Sie fahren mit Karsten Stieneke (Aphroe) durch dessen Heimatstadt Herne, reisen in alle für die Entstehung der Band wichtigen Städte (Witten, Bochum, Oberhausen) und besuchen den mittlerweile in Washington lebenden Pahel Brunis (Pahel). An jeder „Station“ erfährt man Wissenswertes und erhellende Anekdoten. Über eine Zeit, als der deutsche Hip-Hip von vielen noch als Subkultur wahrgenommen wurde und der große kommerzielle Durchbruch des Genres noch bevorstand.
Besonders spannend sind deshalb die raren Original-Mitschnitte von TV-Shows (etwa der VIVA-Kultsendung „Freestyle“) sowie private Fotos und Super-8-Aufnahmen, die die Rapper noch als Teil ihrer anderen Bands zeigen. Denn bevor RAG gegründet wurde, gehörten die Musiker je zwei Bands an, die ab 1991 tief im Hip-Hop-Underground verwurzelt waren. Von dort arbeiten sich die Regisseure im Anschluss chronologisch weiter in die mittleren 90er, als sich RAG gründete und die Gruppe den Weg für den großen „Hip-Hop-Knall“ am Ende des Jahrzehnts ebnete. Denn ab 1997/98 waren Bands wie die Massiven Töne, Freundeskreis, die Absoluten Beginner und Fettes Brot nicht mehr aus den Charts wegzudenken. Von RAG sprach hingegen keiner mehr.

Aufgrund des Detailreichtums und der Fülle an Fakten fällt es nicht immer leicht, inhaltlich zu folgen und alles aufzunehmen. Vor allem Zuschauern, die wenig Berührungspunkte mit Deutschrap haben, könnte es zu schnell gehen: wenn in kurzer Zeit unterschiedlichste Themen angeschnitten und dem Betrachter gefühlt minütlich neue Gesprächspartner präsentiert werden. Doch letztgenannter Aspekt ließe sich gleichsam positiv formulieren. Denn selbst RAG-Fans und (Deusch-)Rap-Interessierte erfahren in 100 Minuten so viel Neues und erhalten derartig viele faszinierende Einblicke, wie es ein mehrere hundert Seiten starkes Lexikon zum Thema wohl nicht besser leisten könnte. Zu den wichtigsten Interviewten zählen Journalist/Labelgründer Oliver von Felbert sowie „Juice“-Redakteur Stephan Szillus. Sie ordnen ein und erklären Zusammenhänge.

Das größte Lob gebührt den Machern, da sie den Film nicht als unkritische Lobhuldigung umgesetzt haben. Sie thematisieren Rückschläge, Fehlentscheidungen, künstlerische Totalausfälle (ein Live-Auftritt beim „Splash!“-Festival), tragische Ereignisse (der Tod von Bandmitglied Galla) und primär: die Schwierigkeit, nach der Zeit als RAG eine Rückkehr ins normale, „bürgerliche“ Leben zu schaffen. Die Versuche als Solo-Künstler schlugen (weitestgehend) fehl, es folgten Jobs auf dem Bau und prekäre Zeiten voller unsicherer Jobs und einer ebenso unsicheren Zukunft. Dass „We almost lost Bochum“ all dies nicht verschweigt, sondern regelrecht selbstbewusst aufzeigt, macht ihn zu einem durch und durch ehrlichen, letztlich zutiefst menschlichen Film über das Auf und Ab im Leben.

Björn Schneider