Das Ereignis

Zum Vergrößern klicken

Als Abtreibungsdrama wurde Audrey Divans „Das Ereignis“ beschrieben, als er beim Festival in Venedig Premiere feierte und mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Das ist der auf dem autobiographischen Roman von Annie Ernaux basierende Film auch, aber doch auch viel mehr: Ein Film über soziale Klassen, die Durchlässigkeit der Gesellschaft und den schwierigen Versuch, sich als Frau nicht unterkriegen zu lassen.

Website: https://prokino.de/

L' événement
Frankreich 2021
Regie: Audrey Diwan
Buch: Audrey Diwan, Marcia Romano, nach dem Roman von Annie Ernaux
Darsteller: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet-Klein, Sandrine Bonnaire, Louise Orry-Diquero, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Anna Mouglalis
Länge: 100 Minuten
Verleih: Prokino, Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 31. März 2022

FILMKRITIK:

Wer sich als Deutscher über mangelnde Durchlässigkeit im Schulsystem beklagt sollte einen Blick zum Nachbar Frankreich werfen. Ein wenig hat sich das elitäre System in den letzten Jahrzehnten zwar geändert, für ein Kind aus der Arbeiterklasse ist es jedoch immer noch sehr schwer auf eine der guten Hochschulen zu gelangen, auf denen man studieren muss, um selbst irgendwann zum Status eines Professors aufzusteigen.

Anfang der 60er Jahre ist dies noch schwieriger, doch Anne (Anamaria Vartolomei) hat es fast geschafft. Sie steht kurz vor den Aufnahmeprüfungen zur Universität, wo sich ihr Traum, als Professorin zu unterrichten erfüllen kann. Doch dann erfährt Anne, dass sie schwanger ist, was selbst für eine Frau aus besseren Kreisen ein Problem wäre, für jemanden wie sie, die aus einfachen Verhältnissen in der Provinz stammt und kaum vernetzt ist, ist es meist das Ende. Schwangerschaftsabbrüche sind zu diesem Zeitpunkt in Frankreich illegal, sobald Ärzte von ihrer Lage hören wird Anne aus den Praxen hinauskomplimentiert – oder bekommt gar Medikamente untergeschoben, die die Schwangerschaft befördern statt sie zu beenden. Ihre Mutter (Sandrine Bonnaire) bekommt von den Sorgen der Tochter kaum etwas mit, ihr liberaler Professor (Pio Marmaï) ahnt etwas, doch helfen kann er nicht und auch die Freundinnen wenden sich von Anne ab und verhöhnen sie als Schlampe.

Wer Filme wie „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ oder „Niemals Selten Manchmal Immer“ gesehen hat kennt die Muster, von denen Audrey Divan in ihrem zweiten Spielfilm erzählt, kennt den Kampf von Frauen in patriarchalischen Gesellschaften, um Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Doch auch wenn Divan den langen, schweren Weg ihrer Protagonistin zu einer Abtreibung in harschen Bildern zeigt, erzählt sie doch von viel mehr.

Im Jahr 2000 erschienen die Romanvorlage des Films, geschrieben von der 1940 geborenen Annie Ernaux, der es gelang, sich über ihre Herkunft zu erheben und zu einer der wichtigsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur zu werden. Gesteigerte Aufmerksamkeit wird ihr (besonders in Deutschland) jedoch erst in den letzten zehn Jahren zuteil. Im Zuge von Didier Eribons Buch „Rückkehr nach Reims“ wurde auch Ernaux verstärkt gelesen und als Beispiel für die Schwierigkeit gesehen, sich aus einfachen Verhältnissen dem Zentrum der intellektuellen Klasse zu nähern.

Und mehr noch als von der Schwierigkeit, im Jahre 1963 ein ungeplantes Kind abtreiben zu können, erzählt Audrey Divan in „Das Ereignis“ von den oft kaum wahrnehmbaren, aber stets existenten Klassenunterschieden, die die französische Gesellschaft prägen. Wirkt Anne Äußerlich noch wie eine ganz normale Studentin, zieht sich ähnlich an, hört die selben Lieder, wirkt gerade die regelmäßige Heimreise zu den Eltern auf dem Land wie eine Zeitreise. So wie sie kann hilft die Mutter ihr, doch man merkt, dass sie die Ziele der Tochter kaum begreifen kann, das sie kaum noch die selbe Sprache sprechen.

Von welcher Enge die Gesellschaft geprägt ist deutet Audrey Divan durch das fast quadratische Bildformat an, in dem die kleinen Räume der Engelsmacherin, die Anne nach langem Suchen ausfindig macht, noch viel bedrückender wirkt. Gerade im Kontrast zu den hohen Räumen der bürgerlichen Arztpraxen, aber hoch zu den universitären Hörsälen. Am Ende wird es Anne geschafft haben, so wie es Annie Ernaux schaffte, doch der Weg dahin war schwer und hat Narben hinterlassen.

 

Michael Meyns