9 Leben

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Eine Art dokumentarischer „Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist Maria Speths Film „9 Leben“, der seine sieben Protagonisten allerdings vollkommen ohne Melodrama, Pathos oder Überhöhung porträtiert. Stattdessen ist der in kargem schwarz-weiß gehaltene Film ein nüchternes Porträt über die Ursachen und Folgen vom mehr oder weniger freiwilligen Leben auf der Straße.

Webseite: www.madonnenfilm.de/9leben.html

Deutschland 2010
Regie: Maria Speth
Drehbuch: Maria Speth
Kamera: Reinhold Vorschneider
Schnitt: Maria Speth
Dokumentation
Verleih: Peripher Filmverleih
Kinostart: 19. Mai 2011
105 Minuten

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Gut 2000 Jugendliche leben auf den Straßen Berlins, meist in Gruppen, die sich an den verkehrsreichen Plätzen der Hauptstadt – dem Alexanderplatz etwa und natürlich dem berühmt, berüchtigtem Bahnhof Zoo – aufhalten, wo viele Menschen vorbeikommen und die Chance auf Kleingeld am größten ist. Das so genannte Schnorren ist verbindendes Element der sieben Personen, die Maria Speth in ihrem Dokumentarfilm „9 Leben“ porträtiert. Abgesehen davon lassen sich die Männer und Frauen nicht in einen Topf werfen, sind sie bei allen Ähnlichkeiten sieben unterschiedliche Charaktere, stehen sie für sieben unterschiedliche Gründe, auf der Straße zu leben.

Meistens sind es Probleme mit den Eltern, die zu der Entscheidung führten, den scheinbaren Schutz des Elternhauses aufzugeben und die – ebenso scheinbare – Freiheit des Lebens auf der Straße zu wählen. Doch von romantischer Verklärung ist hier ebenso wenig zu spüren, wie von dramatischer Überzeichnung. Meist ganz beiläufig wird vom Leben auf der Straße erzählt, von den täglichen Abläufen des Schnorrens, Drogen kaufen, Schlafplatz suchen, die sich auf ihre Weise ebenso wiederholen, wie ein geregeltes bürgerliches Leben. Nur selten gerät jemand ins Stocken, scheint die Härte des gewählten Lebens durch, wenn von toten Freunden die Rede ist oder angedeutet wird, dass das Geld für Drogen nicht ausschließlich durchs Schnorren zusammengetragen wurde, sondern auch durch Prostitution. Doch in diese Richtung geht Speth ganz bewusst nicht. Die typischen, die erwartbaren Aspekte einer Dokumentation über das Leben auf der Straße, die etwa eine Reportage in der Bild oder eben „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ so reißerisch macht, werden nicht übertrieben, so wenig wie die Protagonisten sie dramatisieren.

Besonders die Kontraste zwischen dem oft schroff wirkenden Äußeren, meist geprägt von Piercings und Insignien des Punks, und den bisweilen bemerkenswert hellsichtigen Gedanken über das Leben machen den Reiz des Films aus. Meist lässt Speth ihre Protagonisten einfach reden, ordnet die Gedanken thematisch an, die sich manches Mal widersprechen, dann wieder zu einem komplexen Bild vom Leben auf der Straße ergänzen. Gefilmt ist das im Studio, vor weißem Hintergrund, mit statischer Kamera. Ein Außen gibt es nicht, keine Bilder von der Straße, von den Gegenden Berlins, in denen gelebt wird. Diese formale Strenge ist nicht immer ganz zwingend, zumal Speth den gleichermaßen distanzierten, wie respektvollen Blick auf die Protagonisten immer wieder durchbricht und als Fragende aus dem Off in Erscheinung tritt. Und doch gelingt es gerade durch die Distanz von der Straße, den neutralen Hintergrund, sich den unterschiedlichen Typen zu nähern. So wird aus „9 Leben“, der eigentlich nur Nebenprodukt der Recherchearbeit zu einem Spielfilmprojekt war, ein vorurteilsloser, differenzierter Blick auf eine Welt, an der der Großteil der Bevölkerung meist achtlos allzu oft voller Vorurteile vorbeigeht.

Michael Meyns