All of us Strangers

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Gute Filme hat Andrew Haigh schon gedreht, besonders durch die Romanze „45 Years“ wurde er bekannt. Nichts kann jedoch auf Haighs neuen Film „All of us Strangers“ vorbereiten, eine atemberaubend schöne, tragische, metaphysische Liebesgeschichte, die sich zwischen den Lebenden und den Toten bewegt und zutiefst berührt.

GB/USA 2023
Regie: Andrew Haigh
Buch: Andrew Haigh, nach dem Roman „Sommer mit Fremden“ von Taichi Yamada
Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy

Länge: 105 Minuten
Verleih: Disney
Kinostart: 8. Februar 2024

FILMKRITIK:

In einem Appartementhaus am Rand von London lebt Adam (Andrew Scott), ein Drehbuchautor, eine einsame Seele. Fast allein scheint Adam in dem Haus zu leben, nur ein anderes Fenster ist bisweilen erleuchtet. Dort wohnt Harry (Paul Mescal), der bald mit einer Flasche Whisky vor Adams Tür steht, einen Drink anbietet – und mehr.

Doch Adam lebt in seiner eigenen Welt, beginnt mit der Angabe „Außenaufnahme, Haus in einem Vorort, 1987“ ein Drehbuch zu schreiben, doch eine Schreibblockade verhindert weiteres. Am Abend driftet er durch die Stadt, fährt mit der S-Bahn, landet auf einem Rummel, sieht auf einem Feld einen etwas jüngeren Mann mit Lederjacke. Wie eine Cruising-Szene wirkt das für einen Moment, Adam folgt dem Mann nach Hause – und landet bei seinen Eltern.

Jünger als er sind die Beiden (Jamie Bell und Claire Foy), denn sie sind schon lange tot, gestorben bei einem Autounfall als Adam erst elf Jahre jung war, als er sein Coming Out noch vor sich hatte, auch weil damals, 1987, die Welt noch eine andere, homophobere war. Manches kann er jetzt nachholen, erzählt seinen Eltern von seinem Leben, vom Wandel der Zeit, von seiner beginnenden Affäre mit Harry, eine intensive, innige Beziehung. Zwischen Leben und Tod bewegt sich Adam, zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen Erinnerungen und unerwarteten Chancen.

Vom ersten Moment an, wenn am fernen Horizont die Sonne aufgeht, während in der Scheibe des Appartement das Gesicht von Adam zu ahnen ist, etabliert Adam Haigh eine traumhafte, einnehmende Stimmung. Ganz selbstverständlich wird aus dem deutlich in der Gegenwart angesiedelten Film eine Geistergeschichte, ganz beiläufig und ohne Erklärung laufen die Begegnungen zwischen Adam und seinen Eltern ab, die man als Tagtraum eines Drehbuchautors verstehen mag, der sich kraft seiner Phantasie verpasste Gelegenheiten herbei schreibt. Wunderbare Momente finden so statt, ganz selbstverständlich liegt einmal der inzwischen 45jährige Adam mit seinen etwas jüngeren Eltern im Bett als wäre er noch der elfjährige, der damals seinen Eltern nichts von seinen Gefühlen berichten konnte.

Ohne Nostalgie evoziert Andrew Haigh die späten 80er Jahre, als die Aids-Pandemie ihrem Höhepunkt entgegenging, als Adam in der Schule gemobbt wurde, ohne dass er von seinem Vater beschützt werden konnte.

Viel hat sich seitdem verändert, doch mit sich im Reinen ist Adam nicht. Ganz anders als der deutlich jüngere Harry, der aber mit ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Traumhaft schön und tragisch läuft „All of us Strangers“ auf ein unerwartetes, überraschendes und spektakulär emotionales Ende zu, wo mit Frankie goes to Hollywoods 80er Jahre Power-Ballade „The Power of Love“ ein Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen wird. Ob sich Adam und Harry noch in dem Ketamin-Rausch befinden, auf dem sich gerade Adam zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem befand oder ob die finalen Bilder dieses außergewöhnlichen Films in der Realität spielen, darf jeder Zuschauer selbst entscheiden. So oder so: Am Ende von „All of us Strangers“ weiß man, dass man einen der schönsten Filme des Kinojahres gesehen hat.

 

Michael Meyns