Alois Nebel

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Der außergewöhnliche Animationsfilm nach der gleichnamigen tschechischen Graphic Novel von Jaroslav Rudiš erzählt die Geschichte des Bahnhofsvorstehers Alois Nebel, den die Schatten der Vergangenheit bedrängen, die Teil der Geschichte seiner Heimat sind, - die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Ende des Krieges. Lange ist es nur der Nebel, in den Alois versinkt, bis er durch die Begegnung mit einem geheimnisvollen Fremden beginnt, sich seinen Dämonen zu stellen und den Aufbruch wagt. Mit der alten Technik der Rotoskopie wird schauspielerische Lebendigkeit ins Poetische verstärkt, aufersteht in kunstvoll komponierten Bildern die morbide Welt des Spätsozialismus im tschechischen Altvatergebirge, bis sie dramatisch untergeht. Ein ästhetisches Experiment, das Maßstäbe setzt. Großartig!

Ausgezeichnet mit dem Europäischen Filmpreis 2012 als Bester Animationsfilm

Webseite: www.neuevisionen.de

Deutschland, Tschechische Republik 2011
Regie: Tomás Lunák
Drehbuch: Jaroslav Rudis
Design: Jaromir 99
Darsteller: Miroslav Krobot, Marie Ludvikova, Karel Roden, Leoš Noha u.a.
Verleih: Pallas Films/ Neue Visionen
Start: 12. 12. 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein Zug fährt direkt auf den Zuschauer zu. Die Lok wird größer, die Schienen zittern, dann verschwimmt alles im Nebel. Wir befinden uns am Ende der 1980er Jahre in einem abgelegenen Ort namens Bílý Potok in der Nähe der tschechisch-polnischen Grenze, an einer heruntergekommenen Bahnstation und mitten im Leben des Bahnhofsvorstehers Alois Nebel, der, wie schon sein Vater, nichts anderes kennt als die kleine Welt von Bílý Potok und die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge. Und wir befinden uns in einem außergewöhnlichen Animationsfilm nach der gleichnamigen Graphic Novel von Jaromir 99 und Jaroslav Rudis, der in einer bestechenden Schwarzweißästhetik und kunstvoll komponierten Bildern und Tönen die untergegangene Welt des Spätsozialismus im tschechischen Altvatergebirge auferstehen läßt.

In einem aufwendigen Prozess hat man die vergleichsweise alte Technik der Rotoskopie angewandt, die es seit 1915 gibt, und bei der ein Film zunächst realistisch an originalen Schauplätzen mit Schauspielern gedreht und dann Bild für Bild nachgezeichnet wird. So wollte Regisseur Tomás Lunák der Bildästhetik der Buchvorlage nahekommen, den tschechischen Kult-Comics um den skurrillen Einzelgänger Alois Nebel, die seit kurzem auch in deutscher Übersetzung beim Leipziger Verlag Voland & Quist erschienen sind.

Alois Nebel (Miroslav Krobot) ist ein wortkarger Sonderling, der in stetem Gleichmut den tropfenden Wasserhahn unterm Bahnhofsvordach nachjustiert, und mit einem Kater als einzigem Gefährten auf der Bahnstation lebt. Wenn es nicht eingeblendet würde, vermutete man nicht, dass wir uns im Herbst des Jahres 1989 befinden. Zeitlos scheint hier das Leben zwischen düsteren Gebirgszügen dahinzudämmern, ärmlich und verrottet, was sich auch in der Sprache von Wachek (Leoš Noha) ausdrückt, Alois schmierigem Kollegen, der mit den Russen einträgliche Geschäfte macht und eines Tages auch einen stummen Fremden (Karel Roden) denunziert, der illigal über die Grenze gekommen war.
Alois hat sich im Gleichmaß seines Lebens eingerichtet. Doch immer öfter erscheinen ihm im Nebel der vorbeifahrenden Züge Bilder aus der Vergangenheit, wo Menschen in Zügen abtransportiert und Familien auseinander gerissen wurden, wo das neue Regime die Sudetendeutschen brutal aus ihrer Heimat vertrieb. Das Kind Alois, auf dem Arm des Vaters, sieht mit an, wie Menschen erschossen oder verschleppt werden. Die Augen weit aufgerissen erlebt es sprachlos und unverstanden Abschied und Tod.

Eines Tages verfängt er sich so sehr im Nebel seiner Erinnerungen, dass er in tiefe Depressionen fällt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Dort trifft er den Mann wieder, den Wachet an die Behörden verraten hatte und der für Alois zum Auslöser werden soll, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen. Aber zunächst herrscht Starre. Während man im Radio die Nachrichten vom Aufstand in Prag und Berlin hört, beharrt man in der Klinik auf den alten Methoden. Da wird ruhiggestellt und gedemütigt, sollen Elektroschocks den Fremden zum Reden bringen.

Die Düsternis dieser Endzeitstimmung im real existierenden Sozialismus bekommt durch die scharfkantige Schwarzweiß-Überzeichnung einen starken Sog und führt den Blick auf das kleinste Detail. Da wird ein Zucken im Schatten des Mundwinkels zum Ausdruck höchster Bedrängnis. Da wird die Dramatik einer Naturkatastrophe, wenn der Regen nicht mehr aufhört und die Dämme brechen, zum Seelenbild einer Befreiung. Es ist die Geschichte eines großen Schweigens und eines vorsichtigen, gelingenden Aufbruchs, einer Entkrustung, aus der auch eine Liebe wächst. Alois ganz persönliche Revolution findet innen statt.

Die schauspielerische Lebendigkeit wird durch die Kraft der Zeichungen ins Poetische verstärkt und ist Teil einer ausgefeilten Bild- und Tonkomposition, in die auch Versatzstücke aus dem Realfilm eingefügt sind; Grenzen verschwimmen, verwirrende Ansichten von Realität entstehen.

Der Europäische Filmpreis ist nur einer der Preise, den der Film bereits abgeräumt hat, denn dieses ästhetische Experiment setzt Maßstäbe auch darin, wie unsere überforderten Sinne entlastet und der Blick geschult wird für die absichtsvollen Feinheiten. Mit einem Wort: Großartig!

Caren Pfeil