Alpen

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Der neue Film des Griechen Yorgos Lanthimos („Dogtooth“) zeigt ein Quartett unterschiedlicher Menschen, die sich Trauernden als Doubles der dahingegangen Lieben anbieten. Viele bizarre Situationen in dem zwischen Gangster-Geschichte und schwarzer Komödie angesiedelten Film führen zur Tragik einer Krankenschwester, die keine echte menschliche Bindung mehr kennt und völlig von ihren „Kunden“ abhängig ist. Ein verstörendes und forderndes Werk des neuen europäischen Kinos.

Webseite: www.rapideyemovies.de

Originaltitel: Alpis
Griechenland 2011
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Efthimis Filippou, Yorgos Lanthimos
Darsteller: Aggeliki Papoulia, Aris Servetalis, Johnny Vekris, Ariane Labed
Laufzeit: 93 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 14.06.2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Ein rätselhafter und ungemein starker Auftakt: Die Turnerin absolviert zu Orffs Carmina Burana eindrucksvoll ihre Kür mit dem Band. Das Gespräch mit dem lange außerhalb des Bildes bleibendem Trainer dreht sich um den Wunsch der jungen Sportlerin, „mal Pop zu machen“. Bis der ältere Mann den Dialog mit einer erschreckend brutalen Drohung beendet.

Jetzt erwartet man klassisch eine Vertiefung dieser ungleichen Beziehung, etwas Lebensgeschichte von beiden Beteiligten. Doch ein harter Cut in einen Krankenwagen führt zu einer neuen, nicht auf Anhieb verständlichen Szene: Eine Krankenschwester bespricht mit einem Rettungssanitäter den kritischen Zustand der Patienten. Kritisch oder besser noch tot scheint gut zu sein. Dann spricht die Krankenschwester den Eltern einer verstorbenen Tennisspielerin Trost zu, um sanft ein unglaubliches Angebot zu machen: Sie würde gerne stundenweise den Platz der Toten einnehmen und so den Schmerz der Angehörigen zu lindern.

Das also wäre verkürzt der Plot von „Alpen“, Yorgos Lanthimos’ Nachfolger seines artverwandten „Dogtooth“, der 2009 den „Un Certain Regard“-Preis in Cannes erhielt und für den Auslands-Oscar nominiert wurde: Eine Krankenschwester, ein Rettungssanitäter, eine Turnerin und ihr Trainer nehmen gegen Bezahlung die Rollen von Verstorbenen ein. Im Seitenraum einer Turnhalle befindet sich diese Agentur für persönliche Ersatzmenschen und in einer der vielen skurillen Szenen breitet der Rettungssanitäter, der den Anführer gibt, seine großartige Idee aus, sich als Decknamen Alpengipfel auszuwählen. So weit, so faszinierend absurd. Doch richtig schräg sind erst die Einsätze der Truppe. Nach strengen Übungen und Anweisungen, die von Freunden, Kollegen oder Angehörigen der Toten geliefert werden, vollziehen sich bei einer blinden Frau, bei den trauernden Eltern und dem verlassenen Lampenverkäufer Szenen schlimmsten Laientheaters. Die Peinlichkeit dieser Momente schwankt zwischen Fremdschämen und Mitleiden an der Einsamkeit, die schreckliche Formen annimmt.

Die strengen Regeln der „Alpen“ verlangen dabei, dass es keine emotionalen Bindungen oder intime Kontakte mit den Hinterbliebenen gibt. Die Krankenschwester hält sich jedoch nicht daran. Will sie etwas hinzuverdienen? Überhaupt entwickelt die Monte Rosa genannte in all diesen, eigentlich tieftraurigen Handlungen eine eigene Tragik. Zu alt für die Teenager-Rolle, die Klamotten, das Jugendzimmer und den hinzu geladenen Freund, kann sie die Eltern doch zu Tränen rühren. Und da ist noch diese andere Rolle mit einem Vater, oder ist es wirklich ihrer? Um sie zur Zufriedenheit zu spielen, engagiert sie wiederum einen Freund, mit dem sie eine erste Liebe inszeniert.

Als ihre Nebenjobs herauskommen, reagiert Boss Mont Blanc extrem brutal, wie er auch schon vorher Fehler abstrafte. „Alpen“ zeigt sich hier formal als Gangstergeschichte mit ganz ungewöhnlichen Verbrecher-Typen und verquerer „Kriminalität“. Mittels dieses sehr seltsamen aber auch äußerst reizvollen Ansatzes lotet der Grieche Yorgos Lanthimos zwischenmenschliche Beziehungen aus. Wenn man sieht, wie die völlig haltlose Krankenschwester mit Gewalt versucht, im fremdem Leben zu bleiben, fragt man sich, bei wem eigentlich Lücken im Beziehungssystem durch die Alpen gefüllt werden sollen.

„Alpen“ gewinnt seinen Sog nicht aus dem ernsthaften Diebstahl einer Persönlichkeit mit krimineller Absicht wie bei der Highsmith-Verfilmung "Nur die Sonne war Zeuge". Der moderne griechische Film ist eher sehr verwandt mit „Zarte Parasiten“ von Christian Becker und Oliver Schwabe; solch bizarren Beziehungen kannte man bislang nur von Todd Solondz (vor allem bei „Palindrome“).

Nach „Dogtooth“ beschäftigt sich Yorgos Lanthimos diesmal um vereinsamte Individuen, die eher statische Kameraarbeit konzentriert sich auf das Zwischenmenschliche, das nur in Form von Surrogaten vorhanden ist. Es gibt keine echte menschliche Bindung mehr und im Extremfall sogar Abhängigkeit von der Ersatz-Konstruktion. Viele bizarre Situationen des zwischen Gangster-Geschichte und schwarzer Komödie angesiedelten Films zwingen zum Nachdenken über das Abwesende. Ein außergewöhnliches und sehr sehenswertes Werk des neuen europäischen Kinos, das in Venedig mehr als den Drehbuch-Trostpreis verdient hätte.

Günter H. Jekubzik

Ein Rettungssanitäter, eine Krankenschwester, eine Sportstudentin und Trainer bilden eine ziemlich kuriose Gemeinschaft mit dem Ziel, vom Tod betroffenen Angehörigen beizustehen. Sie beschließen, dass ihr Club geheim bleibt und geben ihm die unverfängliche Bezeichnung „Alpen“. Jeder erhält den Namen eines Berges, zum Beispiel Mont Blanc (der Rettungssanitäter als Anführer), Monte Rosa, usw.

Die Regeln der Gemeinschaft sind außerordentlich streng – verlangt werden etwa Kenntnisse in Psychologie, ständige Kontrolle, keine Bindung an die „Kunden“, mimische Ausdrucksfähigkeit, Bereitschaft zum Sterben.

Die Krankenschwester (Monte Rosa) ist bereit, in die Rolle eines jungen Mädchens, eines Unfallopfers zu schlüpfen; die ersten vier Besuche bei den Eltern, erklärt sie, seien kostenlos.

Der Rettungssanitäter will den verstorbenen Freund eines Mannes ersetzen. Auf Anhieb klappt das nicht, weil die Brille des Toten noch fehlt und daher die Nachahmung nicht perfekt sein kann.

Bei einer älteren blinden Dame spielen der Trainer und die Krankenschwester deren toten Ehemann.

Die Sportstudentin kann einen bestimmten Satz der toten Enkelin eines alten Herrn nicht fehlerlos aufsagen. Sie wird dafür hart bestraft und riskiert ihre Stellung bei den „Alpen“.

Die Krankenschwester muss sich in die Rolle einer englischsprachigen Kanadierin versetzen, vor ihrem Tod die Ehefrau des Inhabers eines Lampenladens. Das heißt zum Beispiel im Winter im Meer baden und die Diabetikerin mimen.

Sie ist zudem so sehr das durch jenen Unfall verstorbene Mädchen geworden, dass sie mit dessen Freund schläft. „Mont Blanc“ kommt ihr auf die Spur und stellt ihr mit Hilfe der Sportstudentin eine Falle. „Monte Rosa“ geht sogar auf die neue Lebensgefährtin ihres Vaters los.

Die Regeln der „Alpen“ sind jetzt vielfach schwer gebrochen. Die Dramatik steigt.

Hinter der Absurdität der Handlung und der Personen steckt viel mehr, als man bei nur oberflächlicher Betrachtung mitbekäme. Es sind Anklänge an Unbewusstes, an Freudsches, an Experimentelles, an Spielerisches, an Irres, an Tragisches, an
Komisches. Alte Geleise des Kinos werden verlassen, eine neue Richtung ist eingeschlagen. Achtung, griechisches Kino!

Da wird’s künstlerisch interessant. Die Absurdität als sehenswerte Gattung.

Die Art und Weise, wie Aggeliki Papoulia die Rolle der Krankenschwester „Monte Rosa“ spielt, ist zudem faszinierend.

Thomas Engel