Der Titel des Films bezeichnet einen unerreichbaren Sehnsuchtsort, ein Traumziel, zu dem die Protagonisten dieses Melodrams hinstreben, und das sie, ganz typisch für ein Melodram, nicht erreichen werden. Der Drehbuchautor und Regisseur Ofir Raul Graizer, der schon in seinem vielfach preisgekrönten Film „Der Kuchenmacher“ großes Emotionskino gezeigt hat, erzählt erneut eine Geschichte, in der das Schweigen mehr sagt als das gesprochene Wort. Feines Arthouse-Kino.
Deutschland/Israel/Tschechien 2022
Drehbuch und Regie: Ofir Raul Graizer
Cast: Michael Moshonov, Oshrat Ingedashet, Ofri Biterman, Moni Moshonov, Irit Sheleg, Evelyn Shafir, Ruba Blal Asfur, Lukas Henri Kropat, Or Butbul
Kamera: Omri Aloni
Schnitt: Ofir Raul Graizer, Michal Oppenheim
Musik: Dominique Charpentier
Länge: 127 min
Verleih: missing films
Start: 07.03.2024
FILMKRITIK:
Eli arbeitet seit zehn Jahren in Chicago als Schwimmlehrer, als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Vater in Israel gestorben ist. Der eher zurückhaltende, fast schüchterne Mann kehrt in sein Heimatland zurück, um den Nachlass zu regeln. Dort trifft er seinen Jugendfreund Yotam wieder, mit dem ihn immer noch eine enge Zuneigung verbindet. Auf einer gemeinsamen Wanderung kommt es zu einem tragischen Unfall: Yotam stürzt auf den Kopf und fällt in ein Koma, aus dem er möglicherweise nie wieder erwachen wird. Yotams Verlobte Iris gibt Eli die Schuld an diesem Schicksalsschlag, doch je länger Yotam im Koma liegt, desto mehr finden Iris und Eli zueinander – eine langsame, aber folgerichtige Entwicklung. Vielleicht kommen sie auch nur deshalb zusammen, weil sie beide Yotam vermissen. Aber dann wacht Yotam eines Tages wieder auf …
Ofir Raul Graizer hat in „America“ nichts dem Zufall überlassen. Von der Musikauswahl über die Bildkomposition bis hin zur lichtdurchfluteten floralen Ornamentik im Leben der Blumenhändlerin Iris: Jedes Detail dient dazu, dem Zuschauer all die Emotionen nahezubringen, über die die Protagonisten selbst nicht zu sprechen wagen. Vieles, das meiste bleibt hier unausgesprochen und ist lediglich unterschwellig spürbar. Und es gibt viele Dinge, über die Eli, Iris und Yotam nicht sprechen wollen oder können, sowohl aus der Gegenwart als auch aus der Vergangenheit. Nach und nach lüften sich immerhin einige Geheimnisse. Da geht es um Elis traumatische Kindheit oder um Erklärungen für seine Besessenheit vom Schwimmsport und seine Abneigung gegen das Wettkampftraining.
Bei einer so subtilen Herangehensweise an einen Stoff spielt die Besetzung eine wichtige Rolle. Hier zeigt Graizer großes Geschick: Die drei Hauptrollen harmonieren exzellent miteinander, sie beherrschen die komplette Klaviatur einer nuancierten Darstellung.
Die Dreiecksgeschichte, die Graizer erzählt, mag nicht unbedingt neu sein, aber die Art und Weise, in der Graizer von drei Menschen erzählt, die auf verschiedenen Ebenen nicht zueinander finden können, ist durchaus bewegend.
„America“ ist ein melancholischer, aber keineswegs sentimentaler Film, der im wahrsten Sinne des Wortes anrührend ist – eine sinnliche und emotionale Erfahrung, die bei einem cineastisch interessierten Publikum, das sich auf eine eher ruhige, poetische Geschichte einlassen möchte, lange nachklingen wird.
Gaby Sikorski