Antichrist

Zum Vergrößern klicken

Bevor man Lars von Triers neuen Film sieht, sollte man alles, was man aus Cannes über „Antichrist“ gehört hat, vergessen. Ja, es gibt einige wenige extrem graphische Szenen, ja, wenn man unbedingt will, kann man Lars von Trier einmal mehr Misogynie vorwerfen und ja, lässt man sich nicht auf die komplexen Motive und Verweise ein, wirkt „Antichrist“ schnell prätentiös. Gleichzeitig aber ist es ein erschütternder, faszinierender, brillant gespielter und unfassbar ästhetischer Film, komplex in seiner Symbolik, vielschichtig in seiner Thematik. Gleichwohl werden ihm Gewalttätigkeit und Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Ein somit zutiefst umstrittener Film!

Webseite: www.antichristthemovie.com

Dänemark 2009
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Musik: Händel
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe
Länge: 104 Min.
Verleih: MFA
Kinostart: 10. September 2009
 

PRESSESTIMMEN:

Folter! Kindstod! Kastration! Blutsperma! Für Triers Schocker um ein Ehepaar, das sich in einem finsteren Wald seinen Ängsten stellt, sollte man einen stabilen Magen mitbringen. Kompromissloses Kunstkino.
KulturSPIEGEL

FILMKRITIK:

Der Legende nach befand sich Lars von Trier in einer tiefen Depression und wusste nicht ob er jemals wieder einen Film drehen würde. Also schrieb er das Drehbuch zu „Antichrist“, der somit als eine Art persönliche Psychotherapie verstanden werden könnte. Ob allerdings der von Willem Dafoe gespielte Mann (ebenso wie die Frau namenlos und dadurch offenkundig als grundsätzliche Repräsentanten der Geschlechter zu verstehen) von Triers Alter Ego ist, bleibt wie so vieles in diesem Film eine Möglichkeit. Wirklich eindeutig ist hier kaum etwas, auch wenn von Trier höchstwahrscheinlich sehr genaue Vorstellungen von der Bedeutung seiner Arbeit hatte.

Es beginnt mit der zuerst von Freud beschriebenen Urszene: Ein kleines Kind beobachtet seine Eltern beim Sex. Prolog und Epilog, jeweils in extremer Zeitlupe und schwarzweiß gefilmt, rahmen die vier folgenden Kapitel des Films namens „Trauer“, „Schmerz (Chaos regiert)“, „Verzweiflung (Gynozid)“ und „Die drei Bettler“. Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg spielen das Ehepaar, das sich erst unter der Dusche, dann im Bett liebt (dabei eine Flasche umwirft, die offensichtlicher Verweis auf eines der stetig wiederkehrenden Motive Andrej Tarkovskys ist, dem der Film gewidmet ist), begleitet von der Arie Lascia ch’io Pianga – Lass mich weinen, aus Händels Rinaldo. Während die Eltern sich ihrer Extase hingeben, klettert das Kind aus seinem Bett, sieht die Eltern, schiebt einen Stuhl ans Fenster und stürzt sich im Moment des Orgasmus der Frau in den Tod. Die Mutter stürzt in tiefe Trauer, der Mann, ein Psychologe, glaubt sie aus ihrer Verzweiflung befreien zu können, in dem er mit ihr in das gemeinsame Ferienhaus fährt, Eden genannt. Dort durchlebt das Paar etwas, das einerseits als extreme Form von „Szenen einer Ehe“ bezeichnet werden könnte, andererseits als ein Durchspielen der klassischen Horrorfilmsujets Besessenheit, Exorzismus und Teufelsaustreibung.

Ein klassischer Horrorfilm ist „Antichrist“ allerdings natürlich nicht, vielmehr spielt von Trier mit Märchenmotiven, besonders der unheimlichen, bedrohlichen Atmosphäre des Walds. Gedreht wurde passenderweise in Deutschland, was Bezüge zu den Gebrüder Grimm nahe legt, vor allem aber zur Hexenverfolgung und -verbrennung im Mittelalters.Dies ist, wie der Mann spät entdeckt, das Thema der Doktorarbeit der Frau und möglicherweise die Ursache für ihr – wie er es interpretiert – unerklärliches Schuldbewusstsein. Leicht könnte man in der Verdammung weiblicher Sexualität ein typisches Beispiel für den Misogynismus finden, der von Trier bei fast jedem Film vorgeworfen wird. Zumal Charlotte Gainsbourg sich in einer brillanten Darstellung mit ganzem Körpereinsatz in ihre Rolle verliert. Immer extremer wird ihr Verhalten im Laufe des Films, immer animalischer ihre Lust, die schließlich zu einigen der graphischen Momente führt, die in Cannes für einen wohl unvermeidlichen Skandal sorgten.

Viel mehr als ein brutaler, unverständlicher Film, die Anklage der weiblichen Sexualität durch einen puritanischen Geist, lässt sich „Antichrist“ aber als extreme Schilderung des Verfalls einer Ehe, der Liebe an sich, lesen. Am Ende kehrt der Mann zwar in die Welt der Lebenden zurück, geschlagen, verwundet, aber ein kathartischer, oder gar glorreicher Moment ist dies nicht. Das Schlussbild, in dem Heerscharen gesichtsloser Frauen zusammen mit dem Mann einen Berg besteigen, der auch als Aufstieg aus der Hölle gelesen werden kann, beschwört nicht nur das Ende dieser Ehe, sondern das Ende der Menschheit schlechthin. Wohl nur einem Mann in tiefer Depression, ein Regisseur der ohnehin nie Scheu vor der Darstellung der Abgründe der menschlichen Existenz hatte, würde solch ein Bild einfallen. Es hinterlässt den Betrachter erschüttert, beeindruckt von der unwirklichen Schönheit der Bilder, verwirrt von den komplexen, auch problematischen Implikationen des Gesehenen. Gewiss ist nur, dass sich Vielschichtigkeit der Bezüge und Motive erst nach vielfachem Sehen von „Antichrist“ erschließen wird.

Michael Meyns