Atlantide

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Wird Venedig dereinst den Weg des mythischen Atlantis gehen und im Meer versinken? Visionen des Untergangs jedenfalls sind in der Lagunenstadt nie fern, die Melancholie der Vergänglichkeit jederzeit zu spüren. So auch in Yuri Ancaranis „Atlantide“, einer visuell und akustisch eindrucksvollen Doku-Fiktion voller Wasser, Schnellboote und zerfließender Träume.

Atlantide
Italien/ Frankreich/ USA/ Katar 2021
Regie & Buch: Yuri Ancarani
Doku-Fiktion

Länge: 104 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 8. September 2022

FILMKRITIK:

Ein paar Hundert Einwohner hat Sant’Erasmo, eine kleine Insel, die nur eine Vaporetto-Station von der venezianischen Hauptinsel entfernt liegt, aber doch wie eine andere Welt wirkt. Kaum ein Tourist verläuft sich auf das kaum 3km² kleine Eiland, das durch seinen Gemüseanbau jedoch seit langem eine wichtige Funktion in Venedig hat.

Auf einer Artischockenplantage arbeitet auch Daniele, ein 24jähriger Melancholiker, der einen großen Traum hat: Das schnellste Barchino zu besitzen, ein leichtes Boot, mit dem er vor der Lagune herumrast, stets auf der Hut vor den hölzernen Pfeilern, die aus dem Wasser ragen und tödliche Hindernisse sein können.

Ein Ziel haben Daniele uns seine Freunde bei ihren Fahrten nicht, nur die Geschwindigkeit, das Gefühl der Freiheit suchen sie. Denn an Land ist das Leben deutlich weniger aufregend, wenn nicht gearbeitet oder an den Motoren geschraubt wird, kiffen Daniele und die Anderen, haben im besten Fall Sex mit ihren Freundinnen. Viel mehr scheinen sie vom Leben nicht zu erwarten, sie wirken gefangen in einer Spirale des Immergleichen.

Von der ersten Szene an, in der die jungen Erwachsenen von einer offenbar stillgelegten Motortaxistation ins Wasser springen, auftauchen und wieder springen, etabliert Yuri Ancarani eine meditative Stimmung, taucht in die weichen, warmen Farben ein, die das Geschehen wie einen endlosen Sommer wirken lassen. Unterlegt sind die Bilder mit der Elektromusik von Sick Luke, Lorenzo Senni und Francesco Fantini, Dialoge dagegen sind rar.

Oft erinnert „Atlantide“ an Videoinstallationen, an Arbeiten, die eher im musealen Kontext zu Hause sind, als im Kino. Kein Wunder, ist der Italiener Yuri Ancarani doch eher im Kunstkontext bekannt, seine Arbeiten wurden in vielen der wichtigsten Museen der Welt gezeigt. 2016 hatte er mit „The Challange“ einen ersten Langfilm gedreht, eine klassische Dokumentation über arabische Scheichs und die Falkenjagd.

„Atlantide“ ist nun ambitionierter, lässt reale Personen Versionen ihrer selbst spielen, inszeniert deutlich fiktive Szenen, ist aber dennoch kein Spielfilm. Was genau inszeniert und was dokumentarisch ist lässt sich nicht immer auseinanderhalten, Ancaranis Ziel scheint gewesen zu sein, ein traumhafte Atmosphäre zu erzeugen, die Venedig auf ganz ungewohnte Weise zeigt.

Fern der touristischen Orte der Stadt spielt „Atlantide“ und doch schwebt der Mythos Venedigs stets im Hintergrund mit. Auf Holzpfeilern errichtet, versinkt Venedig unweigerlich im Meer, der Kampf gegen das Vergehen ist hier Lebensinhalt, was die Vergänglichkeit, den Unweigerlichen Tod noch deutlicher ins Bewusstsein rücken lässt, als an anderen Orten der Welt.

Was Daniele und die Anderen Figuren in „Atlantide“ antreibt bleibt im vagen. Ist es die Lust an der Geschwindigkeit, die Lust am Risiko? Der Versuch, aus dem immer gleichen auszubrechen, auch wenn es in wunderschöner Kulisse stattfindet? Eine ungewöhnliche Erfahrung ist „Atlantide“, ein enigmatischer Film, der zwischen konventionellen Kategorien existiert, wegen seiner Bilder und Töne aber unbedingt im Kino gesehen werden sollte.

 

Michael Meyns