B12 – Gestorben wird im nächsten Leben

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Mit Sicherheit der außergewöhnlichste Heimatfilm der letzten Jahre: Christian Lerch porträtiert die Betreiber einer Raststätte in der Nähe von München. Mal rabiat, mal zärtlich und immer mit einem Funken Humor geht es ums Leben und Überleben miteinander. Das hat so viel Pep und Schwung und ist so prall gefüllt mit alltäglichem Irrsinn, dass man nur wünschen kann, die Langzeitdokumentarbeobachtungskomödie fände den Weg in möglichst viele Nordlichter-Kinos jenseits des Weißwurst-Äquators. Auch und gerade weil es hier manchmal sehr typisch bayrisch rustikal hergeht.

Webseite: www.b12-film.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2018
Buch und Regie: Christian Lerch
Musik: Sepalot
Länge: 92 Minuten
(bayrisch, ohne Untertitel)
Verleih: Südkino, Lerchfilm, 24 Bilder
Kinostart in München und Bayern: 19. Juli 2018

FILMKRITIK:

In der scheinbaren Normalität lauert der größte Irrsinn … auf den ersten Blick ist das große Anwesen an der B 12 ein Rasthaus wie viele andere. Doch schon der zweite Blick zeigt: Hier ist irgendwas merkwürdig. Und spätestens nach 10 Minuten ist klar, dass die scheinbare Idylle an der Bundesstraße in der Nähe von München ein Ort ist, an dem nichts so ist, wie es scheint, weil es einfach immer irgendwie viel schlimmer ist. Oder viel schöner, je nach Blickwinkel. Auf jeden Fall interessant. Dabei geht es kaum bis gar nicht um die Gäste, die auf der Durchreise vorbeikommen, sondern im Vordergrund stehen die Menschen, die hier wohnen und arbeiten, und ihre vielfältigen Beziehungen und Verstrickungen.
 
Da gibt es einen Seniorchef, der fast 90 ist, der Lorenz, Lenz genannt. Er hatte einen Schlaganfall und sein Lieblingssatz, in unterschiedlichen Varianten, ist: „Wenn ich nur sterben könnt.“ Alle sind nett zu ihm, aber er merkt es nicht. Stattdessen grantelt er jeden an. Er schläft in einem schmalen Bett in der großen, alten Rasthausküche. Sein Sohn Manfred wird allgemein Manni genannt und schmeißt jetzt den Laden. Manni ist ein erfahrener Gastronom und unheimlich erfinderisch, wenn es darum geht, neue Einkommensquellen aufzutun. So veranstaltet er auf dem Raststättenareal einen regelmäßigen Flohmarkt, Tuning- und Oldtimertreffen, manchmal Biker-Festivals. Außerdem gibt es noch das Faktotum – ein alter Mann, sicherlich deutlich über 70, der als Parkplatzeinweiser und Kassierer arbeitet. Er knöpft jedem LKW-Fahrer zehn Euro ab, der auf das Raststättengelände fährt. Auch Giuseppe mit seiner Familie ist dabei. Der Italiener betreibt den Stehimbiss und will das leerstehende Rasthaus zu neuem gastronomischen Glanz führen. Eine weitere Hauptrolle spielt das alte Gasthaus selbst, ein außen und innen ziemlich heruntergekommenes Gebäude, von dem sich als einzig freundlicher Kommentar sagen ließe, dass es sich in die ländliche Umgebung einfügt, jedenfalls von weitem. Stromausfälle, diverse Undichtigkeiten und die hoffnungslos überalterte Einrichtung, inklusive rustikaler Holztäfelung, machen es zum ständigen Objekt für Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten.
 
Nur selten gibt es spektakuläre Entwicklungen oder Ereignisse zu beobachten. Im Mittelpunkt stehen die Persönlichkeiten, ihre manchmal verzwickten Beziehungen, ihre Vergangenheit und ihr Alltag. Und vor allem die Gespräche über das Leben an sich und als solches. Diese Gespräch sind zumeist im bayrischen Dialekt (ohne Untertitel), aber man kann sich gut hineinhören. Fast immer sind es alte Männer, die hier reden, denn es handelt sich um den harten Kern einer Art Stammtisch, der aus Mannis und Lorenz‘ Freunden besteht. Auch wenn oft Bier getrunken wird, handelt es sich keinesfalls um so genannte „Biertischgespräche“. Die Männer trinken Bier, weil das in Bayern ein Grundnahrungsmittel ist, und sie unterhalten sich dabei über Liebe, Tod und gutes Essen sowie gelegentlich über den Sinn des Lebens. Das hat naturgemäß viel Lokalkolorit, ist aber durchaus übertragbar. Wenn Menschen sich lange kennen und einander respektieren, dann sprechen sie über alles. Und zwar ohne Belehrungen, ohne sich groß aufzuregen und ohne jeden Versuch, sich zu profilieren. Das haben sie nicht nötig. Dabei gebührt der Regie ein ganz großes Lob, denn es gehört eine ganze Menge gegenseitiges Vertrauen dazu, Menschen dazu zu bringen, vor der Kamera zu agieren, ohne zu spielen. Ebenso schwierig ist es, aus dem Wust an Material genau das herauszufiltern, was ein Publikum interessieren könnte. Für diese Fähigkeiten steht ein Name: Christian Lerch.
 
Christian Lerch wurde bekannt als Drehbuchautor von so großartigen Filmen wie WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT und legte 2012 seinen ersten Film als Regisseur vor, die anarchische bayrische Heimatkomödie WAS WEG IST, IST WEG. Für den Bayrischen Rundfunk hat er die Idee einer Langzeitbeobachtung an diesem sehr, sehr merkwürdigen Ort mitten im Nirgendwo entwickelt, die zunächst als Webserie zu sehen war. Er ist ein Meister darin, Atmosphäre zu schaffen, die Menschen – ohne Wertung – mit liebevollem Blick zu betrachten und den Witz sowie hin und wieder auch mal tiefschürfend Philosophisches hinter scheinbaren Belanglosigkeiten zu entdecken. Er findet den Irrwitz im Normalen und das Normale im Irrsinn. Auch hier gelingt ihm das in grandioser Weise. Die lebendige Bildführung spielt dabei eine wichtige Rolle – unterschiedlichste Kamerapositionen (Kamera: Johannes Kaltenhauser) und eine ausgefuchste Schnitttechnik machen den Film auch optisch zum Genuss. Für die akustische Untermalung sorgt „Sepalot“. Hinter dem Namen verbirgt sich der bayrische Musiker und DJ Sebastian Weiss, der sich einer bayrisch angehauchten Rockmusik bzw. einem rockig angehauchten Bayropop verschrieben hat.
 
Zu Beginn wirft Christian Lerch dem Publikum ein paar Informationsbröckchen zu, aus denen sich im Verlauf des Films ein ganzer Mikrokosmos entwickelt: das Bild einer Familie über viele Jahrzehnte in allen Höhen (selten) und Tiefen (häufiger). Der alte Lenz wirkt zu Beginn wie ein bemitleidenswerter Zausel. Doch bald wird klar: Lorenz ist der alte König, er war vermutlich ein Tyrann, ganz sicher ein Lebemann und hat sich nicht nur Freunde gemacht. Vermutlich gegen seinen Willen musste er die Herrschaft abgeben und ist nun auf die Unterstützung und Hilfe von anderen angewiesen, was der alte Sturkopf, auch aufgrund seiner Krankheit, nicht so recht zu schätzen weiß. Sein Sohn – Kronprinz Manni – hat ihm das Zepter entrissen und baut sich nun sein eigenes Königreich, wobei er hier und da vielleicht auch mal von Rachegedanken geleitet sein mag. „Der Alte hat sowieso 30 Jahre alles blockiert“, sagt er, und dann lässt er neue Fenster einbauen, direkt neben dem Bett seines Vaters. Als Handwerker fungiert ein Trupp wackerer Hobbybastler aus dem Dorf nebenan. Schnell stellt sich heraus, dass die Fenster verkehrt herum eingebaut wurden. Dann werden sie eben wieder ausgebaut. Der absurde Humor, der über dem gesamten Film schwebt wie ein freundlicher Schutzengel, entsteht dabei oft eher aus den Unterhaltungen als aus den Handlungen. Eine überfahrene Katze auf der B12 liefert den alten Männern am Imbiss-Stehtisch die Vorlage für ein Gespräch über die unterschiedlichen Todesarten ihrer verstorbenen Freunde. Das ist so makaber wie lustig, was zuerst von den Männern selbst bemerkt wird, die sich aufs Schönste darüber amüsieren. Dazu laufen im Hintergrund die Geldautomaten, ihr Geräusch begleitet den Film, ebenso wie der Straßenlärm von der B 12.
 
Humorvoll und ein bisschen melancholisch geht es zu, hier bei den ganz normalen Menschen, die man immer besser kennen und lieben lernt. Aber stopp: Was ist eigentlich normal?
 
Gaby Sikorski