Nach Schwangerschaft und Elternzeit den Weg zurück ins Berufsleben zu finden, ist vermutlich für jede Mutter eine Herausforderung. Wenn sie dann auch noch in einem exponierten künstlerischen Beruf arbeitet, kommen Probleme auf sie zu, von denen sie noch gar nicht wusste, dass sie überhaupt existieren.
Der faszinierende Dokumentarfilm „Becoming Giulia“ begleitet die erste Solo-Tänzerin des Zürcher Balletts auf ihrem Weg zurück auf und hinter die Bühne des Opernhauses Zürich.
Dokumentarfilm
Schweiz, 2022
Regie und Drehbuch: Laura Kaehr
Besetzung: Giulia Tonelli, Cathy Marston
Kamera: Felix von Muralt, Stéphane Kuthy, Laura Kaehr
Musik: Mara Micciché, Julian Sartorius, Balz Bachmann
Länge: 103 Minuten
Verleih: W-Film Distribution
Start: 18.01.2024
FILMKRITIK:
11 Monate lang hat Primaballerina Giulia Tonnelli die Ballettschuhe in der Ecke stehen lassen und sich nach der Geburt ihres Sohnes Jacopo ganz auf ihre Mutterrolle konzentriert. Doch jetzt steht eine neue Aufführungsserie von „Romeo und Julia“ an, und Giulia will in dieser Paraderolle auf die Bühne zurückkehren. Keine leichte Aufgabe, denn die erfolgsgewohnte Solotänzerin muss nun leider feststellen, dass ihr Körper, insbesondere ihre Bauch- und Beckenboden-Muskulatur, noch nicht bereit sind, ihrem Willen zu folgen. Sohn Jacopo ignoriert gern die Zeiten, die der eng getaktete Probenplan vorgibt, und zusätzlich zur Neuorganisation von Giulias Privat- und Berufsleben muss sich Giulia damit befassen, dass sie immer weniger Zeit hat, um die Premiere zur Wiederaufnahme vorzubereiten.
Doch Giulia Tonnelli ist ein Superprofi, der mit derartigem Druck klar kommt, und so wird „Romeo und Julia“ erneut zum triumphalen Erfolg. Konventionelle Dokumentarfilme würden mit dieser Premiere enden und als Schlussbild eine versonnen ins Kinderbettchen blickende Tänzerin zeigen, doch die Regisseurin und Drehbuchautorin Laura Kaehr, selbst eine ausgebildete Tänzerin und Choreographin, wollte mehr. Sie interessierte sich dafür, wie es weitergeht mit Giulia Tonnelli, und blieb mit der Kamera drei Jahre lang bei ihrer Protagonistin.
So erlebt der Zuschauer in dieser ruhigen Fly-on-the-Wall-Doku, bei der die Macher sich niemals in den Vordergrund drängen, nicht nur das Heranwachsen Jacopos und die beruflichen Neuerungen, die Giulia anstrebt und verwirklicht. Der Zuschauer sieht auch, wie die Corona-Pandemie die Ballettwelt verändert, zum Beispiel, wie der Atemschutz plötzlich zum Probenalltag gehört. Und man erfährt staunend, dass Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer augenscheinlich zu den wenigen Menschen gehören, die sich über Sprachnachrichten auf ihren Mobiltelefonen ehrlich freuen und sie tatsächlich anhören.
Wer sich nicht nur für den Glamour des klassischen Balletts interessiert, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen werden möchte, ist in diesem Film goldrichtig. Wenn die gefeierte Primaballerina gemeinsam mit der neuen Chef-Choreographin Hand anlegen muss, um neue Tanzmatten zu verlegen und zu verkleben, bekommt man eine Ahnung von der Härte, die der Tanzberuf auch den Erfolgreichen immer noch abverlangt. Aus dem Gegensatz zwischen der perfekten Darbietung auf der Bühne und dem staubigen, schweißtreibenden Ambiente, in dem sie eingeübt und perfektioniert wurde, entwickelt der Film eine eigene Faszination, die auch Menschen außerhalb der Tanzszene in den Bann ziehen wird.
Gaby Sikorski