Bird

„Zurück zu den Wurzeln!“ heißt es für die britische Filmemacherin Andrea Arnold gleich im doppelten Sinne. In ihrer neuen Regiearbeit „Bird“ nimmt sie prekäre Lebensverhältnisse in den Blick, wie sie es etwa in „Fish Tank“ (2009) und „American Honey“ (2016) getan hat. Und noch dazu verschlug es sie für die Dreharbeiten in ihre Heimat, die Grafschaft Kent im Südosten Londons. Was ihr Coming-of-Age-Drama so spannend macht: Regelmäßig wird der harte Realismus von kleinen poetischen und magischen Momenten aufgebrochen.

 

Über den Film

Originaltitel

Bird

Deutscher Titel

Bird

Produktionsland

FRA,GBR,USA,DEU

Filmdauer

118 min

Produktionsjahr

2024

Produzent

Groombridge, Lee / Howell, Juliette / Ross, Tessa

Regisseur

Arnold, Andrea

Verleih

MFA+ FilmDistribution e.K.

Starttermin

20.02.2025

 

Im Mittelpunkt steht die zwölfjährige Bailey (in ihrem ersten Kinoauftritt eine Wucht: Nykiya Adams), die mit ihrem Vater Bug (eine wilde Energie verströmend: Barry Keoghan) und ihrem Halbbruder Hunter (Jason Buda) in einem verfallenen Wohnhaus lebt. Am liebsten streift sie umher und fängt mit ihrem Handy Naturimpressionen, vor allem Tiere, ein, die sie später an die Wand ihres Zimmers projiziert. Die Aufnahmen helfen ihr, für kurze Zeit aus ihrem bedrückenden, perspektivlosen Alltag auszubrechen. Einem Alltag, der keine geregelten Abläufe kennt. Die Schule scheint das Mädchen nicht zu besuchen. Ebenso wenig wie Hunter, der zusammen mit ein paar Freunden eine Art Bürgerwehr gründet, um Missetätern in ihrem Viertel Lektionen zu erteilen.

Dass Orientierung fehlt, muss keineswegs verwundern, sind doch die Erwachsenen in erster Linie mit sich selbst, ihren Sehnsüchten und Träumen beschäftigt. Bug will mit einer Kröte, die einen halluzinogenen Schleim absondert, das große Geld machen. Auch, weil er dringend welches für seine anstehende Hochzeit mit Kayleigh (Frankie Box) benötigt. Von den Plänen völlig überrumpelt, reagiert Bailey mit Ablehnung und lässt sich aus Protest die Haare abschneiden.

Eines Morgens taucht wie aus dem Nichts der Vagabund Bird (Franz Rogowski) auf, der in der Gegend nach seiner Familie sucht. Einerseits wirkt der Außenseiter verloren, andererseits vermittelt er aber auch ein Gefühl von Freiheit, das Bailey fasziniert und anzieht. Kurzerhand beschließt sie, ihm unter die Arme zu greifen. Ein Besuch bei ihrer Mutter Peyton (Jasmine Jobson) führt der Zwölfjährigen vor Augen, dass sich ihre dort lebenden jüngeren Halbgeschwister in akuter Gefahr befinden.

Andrea Arnold beschreibt hier eine Welt, die sie aus eigenen Erfahrungen kennt. Aufgewachsen unter schwierigen Bedingungen, musste die Regisseurin viel früher als andere Kinder Verantwortung übernehmen. Auch Bailey steht schon in jungen Jahren vor der schweren Aufgabe, sich durchzuschlagen, irgendwie zu überleben in einem Umfeld, das von Verwahrlosung geprägt ist. Eltern taugen nicht als Vorbilder, treffen andauernd Entscheidungen über die Köpfe ihres Nachwuchses hinweg, bieten keinen Schutz – weshalb die Heranwachsenden selbst aktiv werden. Nicht umsonst fühlt sich Hunter gezwungen, mit seiner Gang für etwas Gerechtigkeit in der Nachbarschaft zu sorgen.

Über verwackelte Handkamerabilder taucht der Film in das Milieu ein und verleiht dem Geschehen so eine dokumentarische Note. Augenblicke eines magischen Realismus stehen der rauen Bestandsaufnahme allerdings gegenüber: sich im Wind biegendes Gras, der über eine Wiese tänzelnde Bird, Schmetterlinge vor Fensterscheiben oder eine Krähe, die plötzlich zu einer Botschafterin wird. Immer wieder finden Arnold und Kameramann Robbie Ryan Zeit für ein Innehalten, eine kleine Flucht aus der sozialen Malaise, die unsere Protagonistin umgibt.

Leicht unwirklich erscheint ohnehin die Figur des von Franz Rogowski gespielten Sonderlings, der eventuell nur Baileys Fantasie entspringt. Auch wenn er mehrfach mit anderen Charakteren interagiert, umweht ihn ein Hauch des Mystischen. Seinen Namen trägt Bird nicht von ungefähr. Ständig sieht man ihn auf einem Hochhausdach stehen und auf das Treiben in den Straßen schauen.

Dem Fantastischen wendet sich das Drama besonders gegen Ende zu, wobei die schon vorher etablierte Metapher für Baileys Entwicklung etwas holzhammermäßig daherkommt. Nichtsdestotrotz entfaltet „Bird“ in den letzten Minuten eine enorme emotionale Kraft. Allein deshalb ist es lohnenswert, sich auf den unkonventionellen Erzählstil einzulassen. Die Handlung läuft nicht auf ein klares Ziel zu. Und es werden keine typischen Plot-Stationen abgearbeitet.

Ungewöhnlich ist ferner der empathische Blick, mit dem Arnold ihren problembehafteten Figuren begegnet. Mit seinem von Tattoos übersäten Körper und seiner Goldkette sieht Bug beispielsweise wie ein wandelndes Proll-Klischee aus. Sein Verhalten ist teilweise erschreckend rücksichtslos. Und doch spürt man bei ihm echte Liebe für und Sorge um seine Kinder. Die Härten von Baileys Leben werden greifbar. Gleichzeitig versprüht die Regisseurin aber auch ein wenig Hoffnung. Sie selbst hat es immerhin geschafft, den beschwerlichen Herausforderungen zu trotzen.

 

Christopher Diekhaus

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