Bittere Kirschen

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Einmal mehr ein deutscher Film über die deutsche Vergangenheit. Einmal mehr eine Reflektion über die deutsch-polnisch-jüdische Geschichte. Das ist Didi Danquarts „Bittere Kirschen“, der eine Schauspielerin auf ein Road-Movie durch Polen schickt. Vor allem in jenen Momenten ist das ungewöhnlich und interessant, in denen die Figuren unkonventionelle Ansichten über die Erinnerung an den Holocaust äußern dürfen.

Webseite: www.bittere-kirschen.de

Deutschland 2011
Regie: Didi Danquart
Buch: Stephan Weiland, Didi Danquart, nach dem Roman „Lenas Liebe“ von Judith Kuckert
Darsteller: Anna Stieblich, Wolfram Koch, Martin Lüttge, Ronald Kukulies, Sylvester Groth, Rolf Hoppe
Länge: 107 Minuten
Verleih: Filmlichter
Kinostart: 13. September 2012

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Lena (Anna Stieblich) ist Schauspielerin, aber mit ihren Gedanken ganz woanders. Ein Anruf aus der Heimat reißt sie aus ihrem Alltag: Ihre Mutter Marlis ist gestorben, zu der Lena ein eher gespanntes Verhältnis hatte. Zur Beerdigung kehrt sie in ihr Heimatdorf zurück, wo sie Ludwig (Ronald Kukulies) trifft, einen Schulfreund, der sie liebt und immer wieder um ihre Hand angehalten hat. Und sie trifft Julius Dahlmann (Martin Lüttge), einen verschrobenen alten Mann, der Trauzeuge von Marlis war, auch wenn er sie abgöttisch liebte.

Ein Auswärtsspiel der heimischen Fußballmannschaft führt Lena nach Polen, nach Oswiecim, besser bekannt als Auschwitz. Auf die Spuren der Vergangenheit begibt sich Lena in Polen, der eigenen und der deutschen. Auch Dahlmann ist vor Ort, er ist Lena gefolgt und hat sich beim örtlichen Priester Richard Franzen (Wolfram Koch) einquartiert. Auch Dahlmann sucht nach Spuren, die seiner Kindheit, in der er von seinem herrschsüchtigen Vater schikaniert wurde und in Marlis einen Schutzengel fand. Mit dem Auto macht sich das ungewöhnliche Trio schließlich auf den Weg zurück nach Deutschland, immer weiter auf der Suche nach Antworten, die weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart zu finden sind.

An Ingmar Bergmans Klassiker „Wilde Erdbeeren“ hat Regisseur Didi Danquart nach eigener Aussage bei seinem Film „Bittere Kirschen“ gedacht. Man ahnt wieso, denn immer wieder unterbrechen kurze, fragmentartige Szenen den Fluss der Erzählung, die aus einer anderen Zeit stammen. Es sind Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen, die sich langsam zu einem Bild formen. Ins Leere starrend stehen die Figuren deshalb oft im Raum, losgerissen von der Gegenwart. So fließend wie es Bergman gelang, schafft Danquart es nicht, Gegenwart und Vergangenheit, Reales und Erinnertes zu verbinden. Merkwürdig disparat wirkt „Bittere Kirschen dadurch, ein Gespür für die Realität der Figuren, der Geschichte stellt sich nur selten ein.

Das entsteht vor allem in solchen Szenen, in denen unkonventionelle Äußerungen fallen, in denen Lena im Museum von Auschwitz die melodramatische Erinnerungskultur kritisiert und vor allem in der Figur des Julius Dahlmann. Der redet frei von der Leber, hat in erster Linie sein eigenes Leid im Kopf, sein eigenes Schicksal, das ihn zu einem Vertriebenen machte, der sich sträubt, seine alte Heimat Schlesien als Polen zu bezeichnen. Auf seine Seite stellt sich der Film nicht. Das Bemühen, die Vielfalt der Erinnerung anzudeuten, zählt dennoch zu den Stärken des Films. In dem ansonsten wie so oft im deutschen Kino überzeugende Darsteller mit einem Drehbuch konfrontiert sind, das allzu literarisch ist, das zu viel sagen will, statt zu zeigen. All das macht „Bittere Kirschen“ mit all seinen Stärken und Schwächen zu einem sehr deutschen Film.

Michael Meyns

„Bittere Erdbeeren“ hieß ein Film von Ingmar Bergmann, „Bittere Kirschen“ nun die neueste Produktion von Didi Danquart. Und das ist so, weil es nach Danquarts eigenem Bekunden zwischen dem ersten und dem zweiten Film indirekte Bezüge gibt.

„Bittere Kirschen“ ist ein Film über die Erinnerung – nicht über das Vergessen, denn dieses ist „ein Privileg der Toten“ (Heiner Müller).

Um drei Menschen geht es hier vor allem:

Julius Dahlmann, bei dem die Klassik-Schaupielerin Lena nach dem Tod ihrer Mutter Marlis kurz wohnt, erinnert sich: an Polen, wo er aufwuchs; an den harten Vater und Judenhasser, der im KZ Auschwitz Wächter war; an das Hundegebell im Lager; an die stet offene Tür im Auschwitzer Gestapo-Hauptquartier; an Kindheitserlebnisse. Vielleicht hat er doch bald alles überwunden, denn im nächsten Urlaub will er, wie er am Schluss fast befreiend sagt, Israel besuchen. „Auch die Kinder von Nazi-Tätern können Opfer des Faschismus sein“ (Danquart).

Lena, die mit Gott nichts zu tun haben will, lehnt die Heirat mit Ludwig zunächst ab. Zuerst will sie (wie auch Julius) nach Polen reisen, nach Auschwitz, wo alles begann, wie gesagt wird – die einzigartigen Nazi-Verbrechen und wahrscheinlich auch die Begegnung zwischen Julius und Marlis. Die Erinnerung und die Wirklichkeit sind zwei Kategorien, über die sie sinniert und mit deren Verbindung sie sich schwer tut.

Lena und Julius fahren, im ständigen Gespräch sich erinnernd, im Auto von Polen wieder nach Deutschland zurück. Der Dritte im Bunde ist ein Freund von Julius, der Pfarrer Richard Franzen, der wohl aus manchen Gründen, aber nicht zuletzt auch deshalb sein Priesteramt aufgeben wird, weil er sich in Lena verliebt hat. Lena heiratet schließlich Ludwig. Franzen: „Wenn ich auf sie verzichte, kann sie mir niemand wegnehmen.“

Kein leichter Film: voll mit mystischen Andeutungen, kurzen Visionen, halbphilosophischen Gesprächen, imaginären Szenen, abrupten Schnitten, einem den düsteren Themen angepassten Bildstil, schönen symbolischen Aufnahmen, guter Musik und
exzellentem Spiel von Anna Stieblich (Lena), Martin Lüttge (Julius Dahlmann) und Wolfram Koch (Richard Franzen). Besonders schön das imaginäre Zwiegespräch zwischen Lena und der toten Mutter in der Kirche.

Einer von den total intellektualisierten Filmen, die es geben muss. Aber wie gesagt alles andere als ein leichter Film.

Für Arthouse-Fans.

Thomas Engel