Bloody Nose, Empty Pockets

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Die letzte Nacht in der Stammkneipe, die letzten Drinks, der letzte Tanz mit der heimlichen Liebe … Das „Roaring 20s“ ist eine Bar in Las Vegas – eine von der alten, guten Sorte, wo jeder Gast sich sofort zuhause fühlt. Da fließt der Whiskey in Strömen, die Jukebox rödelt ohne Pause einen Lieblingssong nach dem anderen, am Tresen werden Sprüche geklopft, und der Wirt sorgt für gute Laune und für Ordnung, falls nötig. Den Brüdern Bill und Turner Ross ist mit ihrem hybriden Dokumentarfilm ein schöner Coup gelungen. Geschickt mischen sie Realität und Fiktion, ihre Kamera ist immer mitten im Geschehen. Auf diese Weise gelingt ihnen ein intensiver Blick ins pralle Leben und damit tatsächlich so etwas wie die Momentaufnahme des Zustandes einer Gesellschaft.

Website: www.ucm.one/de/bloody-nose-empty-pockets

Dokumentarfilm (mehr oder weniger …)
USA 2020
Regie, Buch: Bill Ross & Turner Ross
Länge: 98 Minuten
Verleih: UCM.ONE
Kinostart: 2.12.2021

FILMKRITIK:

Das „Roaring 20s“ ist eine Bar in Las Vegas, aber fernab vom Glitzercharme der Casino-Amüsiermeile. Die Zeiten haben sich geändert, das Lokal ist in die Jahre gekommen, ebenso wie der Wirt Marc. Am Eingang hängt ein Schild „For sale by owner“, und heute steigt die Abschiedsparty, die keine sein soll. Zum letzten Mal öffnet Marc seinen Laden, morgen früh ist Schluss. Die Kneipe füllt sich mit den Stammgästen. Fast alle sind Männer, viele sind alt. Sie trinken und reden, reden und trinken. Der Schauspieler Michael philosophiert übers Leben und über die Kunst, Ira säuft, und Einstein sagt was Schlaues. Die nur scheinbar coole Shay, die mit ihrem Sohn Probleme hat, hilft Marc an der Bar, Ira säuft, ein Ex-Soldat weint, ein anderer trauert seiner großen Liebe nach. Ira säuft weiter, bis Marc ihm auf Kneipenkosten ein Taxi ruft. Und am Tresen sitzt eine geheimnisvolle, schöne Frau.

Es scheint, als ob nicht viel passiert an diesem Tag, in dieser Nacht und in der Bar, die morgen nicht mehr da sein wird. Aber im Grunde geht es hier um alles, ums Leben und um den Tod – so wie in jeder guten Bar. Hier sind alle willkommen, mit oder ohne Sorgen, die Stillen und die Wütenden, Schwarz und Weiß, Jung und Alt. Man kann mitmachen und mitreden oder sich einfach niederlassen, originelle Typen beobachten und ihnen zuhören. Und in dieser Nacht, in dieser Bar haben sich die sonderbarsten Leute versammelt, die trotzdem alle irgendwie normal sind: Da sitzt der unverbesserliche Tunichtgut (hier: ein Australier) neben der patenten Transfrau, der Süffel neben dem Geschäftsmann und der Obdachlose, der sich morgens hier rasiert, tanzt mit der Tresenkraft.

Hier versammeln sich die Außenseiter, die Loser, die komischen Käuze und die Einsamen. Ein Spiegelbild der US-Gesellschaft, vom unteren Rand her betrachtet, aber keinesfalls voyeuristisch. Es werden Witze gerissen und Sprüche geklopft, die manchmal hammerhart komisch sind, manchmal tiefgründig, manchmal doof und gelegentlich alles zusammen. Die Kamera ist mittendrin im Geschehen, sie hält Stimmungen und Beziehungen fest und viele Details: die leicht abgeranzte Einrichtung, der Krimskrams in den Regalen, die alten Plakate an Wänden, die schon lange keine frische Farbe gesehen haben. Doch hauptsächlich beschäftigt sich die Kamera mit den Gesichtern der Menschen. Über die Bilder formt sich eine unvergleichliche Atmosphäre, die ein bisschen mit Wehmut zu tun hat, aber noch mehr mit dem Alltagshumor, der sich überall entwickelt, wo Menschen zusammenkommen und einfach sie selbst sind.

Die Ross-Brüder haben einen Film gemacht, der nicht nur unterhaltsam ist, obwohl das womöglich der wichtigste Aspekt ist. Sie erzählen keine Geschichte, zumindest keine abendfüllende, sondern viele einzelne, kleine Geschichten, die mehr oder weniger offensichtlich sind, auf Entdeckung warten oder schon abgehakt wurden. Als würden sie die Menschen nur antippen, damit sie etwas von sich preisgeben, lassen sie ihre zahlreichen Protagonisten aufeinander los.

Dabei erweisen sich Bill und Turner Ross als cineastische Grenzgänger, sie wechseln zwischen Realität und Fiktion und sie spielen damit. Was ist inszeniert? Was ist Wirklichkeit? Oft lässt sich das kaum sagen. Uhrzeiten werden eingeblendet, als ob es sich um eine Reportage handelt. Poetisch angehauchte Zwischentitel scheinen den Film zu strukturieren, ein bisschen Kneipenlyrik steckt immer darin – „Every hand is a winner“. Alles Spielerei? Einige Dialoge wirken, als kämen sie aus einem Theaterstück, so knapp und treffend sind sie geraten. Doch ist es nicht eigentlich egal, ob Worte spontan entstehen oder ob sich Autoren darüber Gedanken machen? Es zählt das Hier und Jetzt. Viele Typen kennt man, sie lungern in allen Bars dieser Welt herum: der arbeitslose Zyniker, die sensible Rentnerin, der einsame Wolf … doch die Darsteller sind gecastet, nur einer ist Schauspiel-Profi und spielt einen Schauspieler. Stellen sich alle selbst dar, oder schlüpfen sie in andere Persönlichkeiten? Es ist wahr, was man sieht und hört, zumindest für diesen Moment.

Tatsächlich hat es auch diese Bar in Las Vegas so nie gegeben. Aber das macht nichts, denn hier geht es um die Menschen und nicht um die Kulisse. Der Whiskey fließt in Strömen, und je mehr getrunken wird, desto wahrhaftiger werden die Äußerungen. Die Menschen wachsen zusammen, alte Männer tanzen. Der Alkohol löst die Zungen, je später der Abend usw. Die Zukunft liegt in weiter Ferne. Die schöne Frau am Tresen lächelt, man wird fröhlich, traurig, mutig oder ängstlich. Erst am frühen Morgen leert sich der Laden, die schöne Frau ist nicht mehr da, die Gäste gehen zurück in ihr Leben. „It was fun while it lasted.“ Jetzt ist der Spaß vorbei, und im Gläserregal dreht sich noch die Spieluhr.

Gaby Sikorski