Caught by the Tides

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Einer der überraschendsten, ungewöhnlichsten, schönsten Filme, die dieses Jahr im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes gezeigt wurden, war Jia Zhangkes „Caught by the Tides“, ein Film fast ohne Dialoge, in dem mit im Laufe von über 20 Jahren gedrehten Bildern ein Bild der sich rapide wandelnden chinesischen Gesellschaft entsteht. Radikales Kino, das neue Wege des Erzählens öffnet, allerdings für Neulinge im Werk von Jia rätselhaft wirken könnte.

Feng liu yi dai
China 2024
Regie: Jia Zhangke
Buch: Jia Zhangke, Wan Jiahuan
Darsteller: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou, Zhou You, Ren Ke, Mao Tao.

Länge: 111 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: Herbst 2024

FILMKRITIK:

Vielleicht noch nie in der Geschichte der Menschheit, hat sich eine Gesellschaft so schnell und drastisch verändert wie China in den letzten Jahrzehnten. Jia Zhangke ist der Chronist dieses Wandels, bemüht sich dabei trotz aller Probleme, die ein möglichst unabhängig arbeitender Filmemacher in einem autokratischen System wie dem chinesischen hat, um einen kritischen Blick auf die Veränderung und die Folgen, die sie für Individuen haben.

International bekannt wurde Jia durch den Gewinn des Goldenen Löwen in Venedig, den er 2006 für „Still Life“ erhielt, ein semi-dokumentarischer Film über die Folgen des Baus des gigantischen Drei-Schluchten-Staudamms. Um zwei Liebende, die durch den Bau des Staudamms getrennt wurden ging es, Spuren von diesem Film führen nun auch zu „Caught in the Tides.“ Vor allem über die damalige Hauptdarstellerin Zhao Tao, seit langem Jias Muse und Ehefrau, die im Lauf seiner Karriere fast in allen seiner Filme zu sehen war. Hier spielt sie nominell die Rolle der Qiaoqiao, die anfangs, zu Beginn des Jahrtausends, in der nordchinesischen Stadt Datong als Model arbeitet. Ihr Freund Brother Bin (der ebenfalls schon oft in Jias Filmen zu sehende Li Zhubin) agiert als ihr Manager, zeigt sich jedoch bald gelangweilt vom Leben in der kleinen Stadt und zieht los, um sein Glück zu suchen. In den folgenden Jahren, die zu Jahrzehnten werden, sucht Qiaqiao nach Bin und streift durch das sich rasant wandelnde Land.

Theoretisch könnte man diese Geschichte sicher auch auf konventionelle Weise erzählen, in klassischer Dramaturgie und klaren Rollen. Jia Zhangke hat in "Caught in the Tides" jedoch anderes im Sinn, ambitionierteres, auch enigmatischeres. Das Material für diesen neuen Filme wurde größtenteils nicht bewusst gedreht, sondern entstand im Laufe der letzten Jahrzehnte quasi nebenbei, während er an Filmen wie "Platform", "Still Lifes" oder zuletzt "Mountains May Depart" und "Ash is Purest White" arbeitete, in denen stets Zhao Tao mitwirkte. Teilweise findet sich in "Caught in the Tides" auch Bilder, die direkt aus den älteren Filmen zu stammen scheinen, vielleicht aber auch einfach nur nicht verwendete Aufnahmen sind. Allein für die finalen Bilder, die nach der Covid-Pandemie, in der Gegenwart spielen, hat Jia bewusst neue Szenen gedreht.

Verbunden sind diese Bilder aus über 20 Jahren nun nicht über eine klare Narration oder einen Voice Over, sondern assoziativ, durch die Präsenz von Zhao Tao und über Musik. Anfangs sieht man da noch ältere Chinesen ein traditionelles Lied singen, im Laufe der Zeit werden die Songs moderner, westlicher, poppiger. Nicht zuletzt das Bildmaterial zeigt den Wandel der Zeit an: Anfangs oft noch auf grobkörnigem, digitalem Material gedreht, in fast quadratischem Bildformat, werden die Bilder bald schärfer, breiter, glatter.

Man könnte hier leicht eine Kritik am unaufhaltsam und oft auch unkontrolliert wirkenden Wandel Chinas sehen, eine Gesellschaft, die sich binnen kürzester Zeit und oft ohne Rücksicht auf die Umwelt wandelte, aber so einfach macht es Jia sich und den Zuschauern nicht. Wie  Qiaqiao den Fluss der Zeit wahrnimmt, der sie unweigerlich mitreißt, bleibt der Interpretation frei, denn auf kathartische, pointierte Momente verzichtet Jia konsequent. Wie so oft mutet auch "Caught by the Tides" semidokumentarisch an, wirken Spielszenen wie ein authentisches Bild Chinas, lässt Jia Fiktion und Realität verschmelzen. Ein besonderer Reiz geht dadurch von seinen Filmen aus, die zwar meist deutlich als Fiktionen zu erkennen sind, aber doch auch ein großes Maß an Authentizität aufweisen. Für Kenner seines Werkes mutet "Caught by the Tides" wie eine Fundgrube an, wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten und Orten. Diese Qualität macht Jia Zhangkes neuesten Film allerdings auch besonders enigmatisch, denn durch den Verzicht auf konkrete Narration bietet er Neulingen in seinem Werk wenig Anhaltspunkte. Doch es lohnt, sich auf Jias ungewöhnliche Erzählweise einzulassen, die bewusst gegen Konventionen verstößt und dadurch neue, spannende Wege für das Kino öffnet.

 

Michael Meyns