Anatol Schusters neuer Film – nach der großartigen schwarzhumorigen Komödie „Frau Stern“ – ist absolut keine leichte Kost, aber ein Vergnügen für Arthouse-Fans und solche, die es werden wollen: Gehirnjogging vom Feinsten, ein assoziativer Gedankenspaziergang in klaren Bildern. Es geht um eine Frau, die sich absichtsvoll von der Gesellschaft entfernt, indem sie all ihr Hab und Gut verschenkt, um auf dem Dach ihres Hauses zu wohnen. Die Gründe dafür bleiben unklar. Ein junges Musikerpärchen beobachtet diesen Prozess, der unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der Beiden hat.
Über den Film
Originaltitel
Chaos und Stille
Deutscher Titel
Chaos und Stille
Produktionsland
DEU
Filmdauer
83 min
Produktionsjahr
2024
Regisseur
Schuster, Anatol
Verleih
Neue Visionen Filmverleih GmbH
Starttermin
05.06.2025
Mit „Chaos und Stille“ kommt nach Anatol Schusters Kinodebüt „Frau Stern“, einer makabren Komödie, die ohne irgendwelche Fördermittel realisiert wurde, nun der zweite Film ins Kino, der eigentlich der erste werden sollte. Für seinen geplanten Erstlingsfilm erhielt Anatol Schuster bereits 2017 das begehrte Wim-Wenders-Stipendium, danach folgte eine Reihe weiterer Förderungen – all das dauert bekanntlich seine Zeit.
Die Handlung ist einfach und kompliziert zugleich: Das Künstlerpaar Helene und Jean – sie ist Pianistin, er Komponist – lebt für die Musik, kann aber von der Musik nicht leben. Ein Baby ist unterwegs, Helene gibt Klavierstunden, Jean spielt auf Beerdigungen, und da ist es eine große Entlastung, als ihnen eines Tages ihre Vermieterin Klara (Sabine Timoteo), die im selben Haus wohnt, die Miete erlässt. Aber damit nicht genug: Klaras Verhalten wird immer ungewöhnlicher, denn sie verschenkt ihre Möbel, kündigt ihren Job und zieht aufs Hausdach. Jean und Helene machen sich berechtigte Gedanken, ob Klara womöglich ihre Hilfe braucht. Aber sie scheint sich wohl zu fühlen in der Einsamkeit und Stille oben auf dem Dach. Doch Jean und Helene stellen fest, dass sich Klaras Entscheidung, allen materiellen Werten zu entsagen, offenbar herumspricht. Sie wird zur Galionsfigur einer neuen Bewegung, und Klaras Wohnung wird zum Treffpunkt von Menschen auf Sinnsuche.
Anatol Schuster gibt kaum Erklärungen, sondern er verlässt sich weitgehend darauf, dass sein Publikum willens und in der Lage ist, den Film zu interpretieren. Dafür liefert er eine Fülle von assoziativen Bildern. Warum Klara sich entscheidet, aufs Dach zu ziehen, bleibt unklar. Klara hat Geld und einen gut bezahlten Job. Warum gibt sie alles auf? „Chaos und Stille“ spielt mit den philosophischen Thesen, die dahinterstehen könnten. Jedoch liegt ein großer Reiz des Films gerade in der Fülle unterschiedlicher Deutungsansätze, für die es in homöopathischen Dosierungen Hinweise gibt. Da geht es eindeutig um Kapitalismuskritik – aber hinter Klaras Verhalten steht auch der Wunsch nach Freiheit, und Anatol Schuster zeigt mit offener Ironie, dass Freiheit nur möglich ist, wenn man sie sich leisten kann. Klara ist irgendwann frei, hat aber kein Ziel. Oder ist das die eigentliche Freiheit? Die beiden Künstler haben zwar ihren Idealismus und ihre Musik, aber sonst ziemlich wenig. „Das einzige, was uns überlebt, ist die Musik“, sagt Jean. Und als ein Kind dann fragt: „Wer spielt die Musik, wenn keine Menschen mehr da sind?“, fällt ihm keine Antwort ein. Das hat etwas von „Des Kaisers neue Kleider“: Nur das unschuldige Kind wagt es, die Wahrheit auszusprechen.
„Chaos und Stille“ präsentiert sich im Grunde als ziemlich tiefgründige, manchmal ironisch witzige Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens, ist dabei aber auch ein musikalischer Film, der mit Klängen und Tönen spielt, die häufig eher peinigen als trösten. Sie scheinen die Gegenwart zu spiegeln, eine Mischung aus viel Qual und wenig Hoffnung. Und eine Vermutung taucht auf: Erschafft womöglich Klara diese Töne? Dann wäre sie eine Gottheit, und es spricht einiges dafür, dass Anatol Schuster genau das im Sinn hatte. Die exquisite Kameraarbeit von Julian Krubasik („Wir sind dann wohl die Angehörigen“) scheint die These zu bestätigen. Seine Bilder zeigen Klara als zeitlose Schönheit im Lotossitz, umweht von den strahlend weißen Vorhängen ihrer Wohnung, als Schlafende in Embryonalhaltung auf dem Dach oder spazierend auf der Mitte der Fahrbahn, den Blick lächelnd in die Kamera. Das alles hat etwas eindeutig Göttliches. Aber die Frage ist nicht nur: Was erhoffen sich die Menschen von ihr?, sondern auch: Was bringt sie den Menschen? Und warum? Ist sie dafür auserkoren, Ruhe in unsere zu laute und zu schnelle Welt zu bringen?
Anatol Schuster denkt gar nicht daran, auf diese Fragen eindeutige Antworten zu liefern, stattdessen serviert er augenzwinkernd immer mehr Puzzleteile für sein anspruchsvolles, aber auch immer irgendwie bodenständiges Vexierspiel, in dem es um philosophische Fragen der Gegenwart geht, aber auch um aktuelle Probleme – immer wieder tauchen gleichsam dokumentarisch Obdachlose auf und Kinder, die alleine spielen. Dabei erweist sich Sabine Timoteo als perfekt für die Rolle der Klara, eine zarte und geheimnisvolle Frau, die in sich zu ruhen scheint, ohne dabei übertrieben mysteriös zu wirken. Maria Spanring in ihrer ersten großen Rolle und Anton von Lucke („Alma und Oskar“) spielen das Liebespaar, das hehre Ideale verfolgt und von der Wirklichkeit eingeholt wird. Und die ist chaotisch. Die Stille hingegen ist die Ausnahme, aber vielleicht lässt sie sich in der Musik finden…
Gaby Sikorski