Christo – Walking on Water

Zum Vergrößern klicken

Der bulgarisch-amerikanische Künstler Christo ist berühmt für seine Aufsehen erregenden Installationen, wie etwa die Reichstagsverhüllung in Berlin. Seine spektakulären „Floating Piers“ im norditalienischen Iseo-See zogen im Sommer 2016 mehr als eine Million Menschen an. Fasziniert von seiner Idee „über Wasser zu wandeln“ spazierten Besucher aus aller Welt über drei Kilometer lange schwimmende Stege, die mit gelb-orange schimmerndem Gewebe überzogen waren. Im Stil von Cinema Verité blickt die spannende Doku des bulgarischen Regisseurs Andrey M. Paounov hinter die Kulissen und verfolgt die turbulente Entstehungsgeschichte dieses gigantischen Projekts samt Hürden, Erfolgen und Widerständen. Dabei entsteht ein feinfühliges Porträt des 81jährigen legendären Ausnahmekünstlers, der unterstützt von seinem Neffen, nun ohne seine verstorbene Frau Jeanne, weiterarbeitet. Ein sinnliches Kinoerlebnis, nicht nur für Kunstliebhaber.

Webseite: www.Christo-WalkingOnWater.de

Italien, USA 2018
Regie: Andrey M. Paounov
Darsteller: Christos, Vladimir Yavachev
Musik: Danni Pensi, Saunders Juriaans
Länge: 97 Minuten
Verleih: Alamode Film
Kinostart: 11. April 2019

FILMKRITIK:

„Unsere Werke sind alle total nutzlos“, gibt der Ausnahmekünstler Christo unumwunden zu, „wir schaffen sie nur, weil wir sie gerne anschauen möchten“. Mit seinen spektakulären „Floating Piers“ im norditalienischen Iseo-See sorgte der agile 81jährige freilich dafür, dass die Besucher nicht nur staunend vor seinem gigantischen Kunstwerk standen. Fasziniert von seiner Idee „über Wasser zu wandeln“ spazierten Besucher aus aller Welt über drei Kilometer lange schwimmende Stege, die mit gelb-orange schimmerndem Gewebe überzogen waren. Bis es jedoch soweit war, hatten nicht nur die Götter den Schweiß gesetzt.
 
Im Nachhinein auf der Leinwand die turbulente Entstehungsgeschichte dieses gigantischen Kunstwerks miterleben zu können ist ein besonderer Genuss. Denn Regisseur Andrey M. Paounov gelingt es im Sinne des Cinema Verite der 60iger Jahre, ohne autoritäre Voice-Over, ein absolut unterhaltsames soziologisches Fresco zu schaffen. Sein Blick hinter die Kulissen ist von Anfang an spannend. Dramaturgisch geschickt inszeniert er aus mehr als 700 Stunden Filmaufnahmen einen eindrucksvollen, authentischen Count-Down.
 
Und so fiebert man förmlich mit, ob Christo, der wie kein zweiter Künstler an der Entgrenzung der Gegenwartskunst arbeitete, seine spektakuläre Idee wirklich umsetzen kann. Denn Hürden und heikle Verwicklungen gibt es genug. Angefangen von der Konstruktion der schwimmenden Installation über die Naturgewalten des Wetters bis hin zur italienischen Bürokratie, die ihm Rätsel aufgibt. Wie sollen die 220 000 Schwimmwürfel überhaupt miteinander verbunden werden, damit die drei Kilometer langen Stege vom Ort Sulzano auf die vorgelagerte Insel Monte Isola entstehen?
 
Eine Diskussion, die der drahtige Christo lautstark und vehement mit seinem Neffen Vladimir Yavachev, dem Sohn seines älteren Bruders, führt. Das Projekt entwickelt sich zeitweise zum logistischen Albtraum. Vor allem nach seiner Eröffnung. Denn mit diesem riesigen Ansturm rechnete niemand. Züge und Buse sind überfüllt. Der kleine Ort platzt aus allen Nähten. Bereits am zweiten Tag droht alles aus dem Ruder zu laufen. Selbst Christos Nerven wirken durchgescheuert. Bis zu 20 000 Menschen dürfen gleichzeitig auf den Stegen sein. Soviel halten die „Floating Pierce“ aus. Doch mehr auf keinen Fall. Verzweifelt verlangt Christo den Zustrom zu stoppen. 
 
Den kapitalistischen Kunstmarkt handelt der einst aus dem kommunistischen Bulgarien geflohene Künstler sehr souverän und reell. Schließlich muss seine „Kunstware“ sein nächstes Projekt finanzieren. Der Sohn eines Chemikers finanziert seine teuren Aktionen ausschließlich durch den Verkauf von Originalzeichnungen bis zum Beginn seiner Kunstshow. Auch bei den „Floating Pierce“ bezahlt er die rund 13 Millionen Euro quasi aus eigener Tasche. Wie gefragt seine Zeichnungen sind zeigt eine beinahe rührende Szene mit einem fast weinenden italienischen Sammler. Grund: Er kann sich, nur noch eine kleine Skizze von Christos „Floating Pierce“ leisten, da die Preise stündlich gestiegen sind.
 
Christos Geschäftsmodell ist in gewisser Weise ungewöhnlich. Denn kaufen kann der Sammler nicht das Kunstwerk selbst, sondern eben nur die Symbole und die Erinnerung daran. Wenn der Ausnahmekünstler am letzten Tag sein Hotelzimmer mit seinem verbeulten silbernen Alu-Rollkoffer verlässt, wirkt dieses Ende seiner Reise fast ein wenig melancholisch. Aber schließlich ist die Vergänglichkeit ein essenzieller Teil seiner traumhaften Projekte. Auch der verhüllte Reichstag von Christo und seiner Partnerin Jeanne-Claude traf, obwohl das Projekt über 20 Jahre in der Planung war, in jenem Sommer 1995 den Nerv der Zeit.
 
Beharrlichkeit und Konsequenz kennzeichnen sein gesamtes Œuvre: Schon Ende der 50er-Jahre arbeitete Christo mit Stoffen, Schnüren, Metallfässern. Ob er Alltagsgegenstände verpackt oder ganze Landschaften, Stoffbahnen in den Central Park hängt oder sein Publikum über das Wasser des Iseo-Sees laufen lässt – Christo macht die Welt als Kunst erfahrbar. Freilich haftet seinen Großprojekten auch immer etwas Jahrmarkthaftes an. Doch damit schafft er Schönheit, Spektakel plus gute Laune außerhalb des manchmal aseptischen Kunstbetriebs.
 
Luitgard Koch