Das große Heft

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Sie heißen nur „Der Eine“ und „Der Andere“: Die beiden Zwillinge, die in der Verfilmung von Ágota Kristóf Bestseller „Das große Heft/Le Grand Cahier“ auf allegorische Weise, die Schrecken des Krieges erleben. Eine Welt ohne Hoffnung und Moral inszeniert János Szász, die konsequent von Entmenschlichung erzählt. Ein starker, nicht immer leicht zu ertragender Blick in die Abgründe der Menschheit.

Ausgezeichnet als Bester Film auf dem Karlovy Vary International Filmfestival

Webseite: www.das-grosse-heft.de

OT: A nagy füzet
Ungarn/ Deutschland 2013
Regie: János Szász
Buch: András Szekér, János Szász, nach dem Roman von Ágota Kristóf
Darsteller: András Gyémánt, László Gvémánt, Piroska Molnár, Ulrich Thomsen, Ulrich Matthes, Gyöngyvér Bognár
Länge: 113 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Fassungen: OmU und deutsch (DE auch mit UT für Hörgeschädigte verfügbar)
Kinostart: 7. November 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Mit dem Bild einer heilen Familie beginnt „Das große Heft“, doch es wird das einzige bleiben: Zusammen mit ihren Eltern sitzen die namenlosen Zwillinge (gespielt von András Gyémánt und László Gvémánt) mit ihrer Mutter (Gyöngyvér Bognár) und dem Vater (Ulrich Matthes) auf dem Sofa, friedlich vereint, glücklich lächelnd. Doch der Zweite Weltkrieg hat begonnen, der Vater zieht in den Krieg und die Mutter bringt die Zwillinge bei der Großmutter (Piroska Molnár) unter. Irgendwo auf dem Land lebt die alte, etwas verschrobene, ständig griesgrämig blickende Dame, die im Dorf nur als Hexe bezeichnet wird. Kontakt mit der Mutter gab es nicht, die Enkel hat sie nie gesehen, doch sie nimmt sie auf, lässt sie aber für Kost und Logis hart arbeiten.

Notgedrungen finden sich die Zwillinge mit ihrem Dasein ab, versuchen mit Hilfe einer Bibel der Aufforderung der Mutter zu folgen, weiter zu lernen, und notieren die bloßen Fakten ihres Lebens in das Titel gebende Heft. Mit einem hasenschartigen Mädchen aus dem Dorf freunden sie sich an, ansonsten bleibt ihr Kontakt zur Außenwelt begrenzt. Gelegentlich nistet sich ein deutscher Offizier (Ulrich Thomsen) bei der Großmutter ein, ansonsten ist der Krieg weit weg – und doch stets präsent.

Denn darauf geht es János Szász in seinem allegorischen Film: Den Verfall von Moral und Mitmenschlichkeit in Zeiten des Kriegs. Nachdem die Zwillinge die ersten Male von der Großmutter geschlagen wurden und auch im Dorf nach einem angeblichen Diebstahl Prügel einstecken mussten, beginnen sie sich abzuhärten: Unempfindlich gegen Schmerz wollen sie werden, ein Vorsatz, der nicht nur ihre Körper verhärtet, sondern vor allem auch ihre Seelen.

Zeigen sie anfangs noch Momente der Mitmenschlichkeit, passen sie sich zunehmend ihrer Umgebung an, werden egoistisch und gerissen. Doch mit gutem Grund, denn – so zumindest zeigt es Szász – in Zeiten, in denen die Moral verloren kann, kann man fast nur mit unmoralischen Methoden überleben.

Mit schonungsloser Konsequenz führt Szász diese Geschichte zu Ende, die weder vor dem Verrat an Mutter und Vater nicht zurückschreckt, noch an der drastischen Schilderung der Gräueltaten der zunächst als Befreier begrüßten Roten Armee. Eingefangen in karge, ausgeblichene Bilder wird „Das große Heft“ dank seines allegorischen Ansatzes zu einer allgemeingültigen Anklage des Kriegs, zu einem Fanal wider des Verlust der Menschlichkeit.

Michael Meyns