Das Gullspång Geheimnis

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Eine dieser Geschichten, die nur das Leben schreibt: Im hohen Alter zu erfahren, das es da eine Schwester gibt, von der man nie wusste. So geht es den norwegischen Schwestern Kari und May, die aus wirklich absurdem Zufall ihre Schwester Olaug wiederfinden. Was sich aus dieser Begegnung entwickelt, welche Fragen dies aufwirft, davon handelt Maria Fredrikssons Film „Das Gullspång Geheimnis.“

Das Gullspång Geheimnis (Miraklet i Gullspång)
Schweden, Norwegen, Dänemark 2023
Regie: Maria Fredriksson
Dokumentarfilm

Länge: 110 Minuten
Verleih: mindjazz
Kinostart: 12. September 2024

FILMKRITIK:

Auch Dokumentarfilme sind bis zu einem gewissen Grad inszeniert, das ist inzwischen ein Gemeinplatz, auf den Regisseurin Maria Fredriksson zu Beginn von „Das Gullspång Geheimnis“ noch einmal explizit hinweist. Mehrmals lässt sie ihre Protagonistinnen Kari und May da eine Szene wiederholen, die den Beginn der folgenden, schier unglaublichen Geschichte markiert. Oder möchte die Regisseurin sogar andeuten, dass die Geschichte vielleicht doch nicht ganz der Wahrheit entspricht?
In Norwegen wuchsen die Schwestern auf, nun lebt Kari im schwedischen Örtchen Gullspång, wo sie von May besucht wurde. Ein Unfall auf einer Wasserrutsche interpretiert die streng religiöse May als göttliche Aufforderung, nach Schweden zu ziehen. Und so macht sie sich auf Wohnungssuche, vielmehr jedoch auf die Suche nach einem ganz speziellen Stillleben. Als sie dieses und die dazugehörige Wohnung gefunden hat und den Kaufvertrag unterschreiben will, lernt May die bisherige Besitzerin kennen: Oluag, eine ihr völlig fremde Frau, die dennoch eine unwirkliche Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Lita aufweist, die sich 1988 das Leben nahm. Es ist nun kein Spoiler zu verraten, das Oluag tatsächlich die Zwillingsschwester von Lita ist, von deren Existenz Kari und May nichts ahnten, denn auch der Film macht kein Geheimnis aus dieser Entdeckung.
Denn so absurd diese Wendung auch wirkt, es ist nur der Anfang in einem anfänglich komischen, vor allem aber tragischen Film, der von der komplizierten norwegischen Geschichte erzählt, von Klassenverhältnissen und der Frage, wer man ist.
Der Grund für die Trennung der 1941 geborenen Zwillinge geht bis in den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzung Norwegens zurück: Bekanntermaßen waren die Nazis an eugenischer Forschung interessiert, um „wissenschaftliche“ Belege für ihren Herrenmenschenwahn zu finden, besonders Zwillinge waren gefragte Versuchsobjekte. Um seine Töchter also zu schützen, trennte der Vater Lita und Oluag nach ihrer Geburt, was ihnen zwar das Leben rettete, aber nun, Jahrzehnte später, ungeahnte Folgen hat.
Denn für die atheistisch aufgewachsene Oluag bedeutet die Begegnung mit ihrer streng religiösen Familie die Konfrontation mit einem ungeahnten und auch nicht unbedingt gewollten Aspekt ihrer Herkunft. So groß anfangs die Freude über den unverhofften familiären Zuwachs auch war: Bald wächst die Skepsis.
Den vielen Volten, die die Geschichte schlägt, die unterschiedlichen Stimmungen, zwischen denen die seltsame, unwirkliche, fast surreale Familienzusammenführung changiert, trägt Maria Fredriksson auch formal Rechnung. Manche Bilder wirken wie direkte stilistische Zitate aus David Lychns legendärer Fernsehserie „Twin Peaks“, gerade wenn es um den Selbstmord Litas geht. Die dunklen Familiengeheimnisse bleiben zwar ebenso nur eine Andeutung wie vieles andere, doch gerade das Unfertige, das Ambivalente machen letztlich den Reiz von „Das Gullspång Geheimnis“ aus. Für so einschneidende Entscheidungen, wie die Trennung von Zwillingskindern, kann es Jahrzehnte später ebenso wenig klare Antworten und eindeutige Erklärungen geben, wie für die Erfahrungen, die die Schwestern in ihren jeweiligen Lebensumständen gemacht haben. Wie das Leben verlaufen wäre, wenn man in anderen Umständen aufgewachsen wäre, muss zwangsläufig pure Spekulation bleiben. Am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten, bleiben die drei Schwestern allein mit ihren Emotionen und ihrer neuen, unverhofften, vielleicht auch ungewollten Verwandtschaft.

Michael Meyns