Day Night Day Night

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„Day Night Day Night“ ist ein Film, der weit mehr Fragen stellt als er beantwortet. In extrem minimalistischer Manier zeigt Julia Loktev eine Selbstmordattentäterin, die sich in New York in die Luft sprengen will. Ohne jede moralische Wertung, aber auch ohne Hintergründe der Tat anzudeuten, filmt Loktev dies und erzeugt einen bemerkenswerten, bedrohlichen Effekt: Der Zuschauer beginnt mit der Attentäterin zu sympathisieren.

Webseite: www.peripherfilm.de

USA 2006
Regie: Julia Loktev
Buch: Julia Loktev
Darsteller: Luisa Williams, Josh P. Weinstein, Gareth Saxe, Nyambi Nyambi, Frank Dattolo, Annemarie Lawless
 94 Minuten, Format: 1:1,85
Verleih: peripher
Kinostart: 25. September 2008

PRESSESTIMMEN:

...auf film-zeit.de


FILMKRITIK:

Die in Russland geborene, seit Jahren in Amerika lebende Julia Loktev arbeitet in erster Linie als bildende Künstlerin. So verwundert es nicht, dass ihre Herangehensweise ans Kino wenig mit konventionellen narrativen Strukturen, mit Figurenmotivation- und entwicklung zu tun hat. Vom ersten Moment des Films steht vor allem die von Luisa Williams gespielte Attentäterin im Fokus der Kamera. Konsequenterweise trägt sie keinen Namen, im Abspann wird sie als „Sie“ bezeichnet. 

Sie ist ein unscheinbares, etwas verhuschtes junges Mädchen, kaum der Pubertät entwachsen. Sie kommt nach New York, wird am Busbahnhof abgeholt, in ein Motel gebracht, wo sie bis zum Zeitpunkt des Anschlages bleibt. Im Motel trifft sie maskierte Männer, die dezidiert keinen feststellbaren Akzent sprechen. Sie – und damit auch der Zuschauer – bekommt die Funktion der Selbstmordbombe erklärt, erhält einen Lebenslauf, den sie immer wieder aufsagen muss, um für eventuelle Fragen auf dem Weg zum Ziel gewappnet zu sein. Manchmal wird sie in ein Restaurant geführt, doch in erster Linie vergeht die Zeit mit warten.

Kaum eine Emotion verrät das Gesicht der Hauptdarstellerin, keinen Rückschluss auf Motive lässt sie zu. Erst später, wenn sie mitten in New York unterwegs ist, zwischen den Menschenmassen zu verschwinden droht, entwickelt sich so etwas wie eine Persönlichkeit. Da ruft sie in einem Moment ihre Eltern an, die sich anhören wie ein ganz normales Ehepaar, deren Tochter weggelaufen ist. Sie geht in Geschäfte und kauft sich zu essen, selbst Minuten vor der geplanten Tat kauft sie noch eine Süßigkeit, für deren Verspeisung sie gar nicht mehr genug Zeit hat. In diesen letzten Minuten offenbart sich ein Mensch hinter der emotionslosen Fassade - und darin liegt die ultimative Provokation Loktevs.

“Day Night Day Night” steht in der Tradition von Regisseuren wie Dreyer und Bresson, auch an die jüngsten Filme von Gus van Sant muss man denken. Auch letzterer hat in Filmen wie „Elephant“ und „Paranoid Park“ extremes Verhalten gezeigt, ohne die Universalität der Aussage durch simplifizierende Erklärungen zu schwächen. Ähnlich geht auch Loktev vor, die allergrößte Mühe darauf verwendet, keine Spur zu hinterlassen. So finden sich unter den Maskierten zwei weiße Männer, aber auch ein Schwarzer, später noch eine irische Frau. Keine real existierende Terrororganisation dürfte solche eine Zusammenstellung haben - und genau das ist der Punkt. Jede Assoziation zur Realität, die der Zuschauer haben könnte, ist gleichermaßen richtig und falsch. Es gibt keine Antworten, alles ist Subjektiv. Und dieser subjektive Blick wird im Blick des Films gespiegelt, der mittels visueller Stilmittel, vor allem aber einer ausgefeilten Tonspur den Eindruck zu erwecken sucht, die Wahrnehmung des Mädchens zu zeigen. 

Der Effekt ist ebenso eindringlich wie erschreckend: Der Zuschauer entwickelt große Sympathie mit ihr, versucht sie zu verstehen, ihre Motive zu begreifen und hofft letztlich gleichermaßen auf den Erfolg des Attentats, aber auch auf ihr Überleben. Nicht zuletzt dieser Zwiespalt macht „Day Night Day Night” zu einem faszinierenden Film, der lange nachhallt.
Michael Meyns