Dead Girls Dancing

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Drei Freundinnen, eine Backpackerin, eine Autopanne. In einem verlassenen italienischen Bergdorf erhalten die Vier wenig später die Möglichkeit, unerwartet mit den Grenzen ihrer neu gefundenen Freiheit zu experimentieren. „Dead Girls Dancing“ ist ein beachtliches, fesselndes Regie-Debüt mit einem unverbrauchten, enthemmt aufspielenden Cast und einer gewaltigen Themenfülle. Es geht um unterdrückte Emotionen, die Dynamik einer besonderen Freundschaft, lesbische Verliebtheit, Freiheitsdrang und jugendliche Exzentrik.

Deutschland 2023
Regie: Anna Roller
Buch: Anna Roller
Darsteller: Katharina Stark, Sara Giannelli, Luna Jordan, Noemi Liv Nicolaisen, Wiebke Puls

Länge: 98 Minuten
Verleih: MUBI
Kinostart: 23.11.23

FILMKRITIK:

Ira (Luna Jordan) und ihre Freundinnen haben das Abi in der Tasche wollen auf einem Roadtrip durch Italien ihre neu gewonnenen Freiheiten genießen. Unterwegs gabeln die drei Mädels eine junge Italienerin auf: Zoe, eine mysteriöse Backpackerin, die von zu Hause ausgebüxt ist und Seltsames über Hexen von sich gibt. Als ihr Auto eine Panne hat, stoßen sie auf der Suche nach Hilfe auf ein abgeschiedenes, verlassenes Bergdorf. Ein Dorf ohne Erwachsene. Hier sind die jungen Frauen frei und losgelöst von jeglichem Erwartungsdruck, der ihnen in der Zivilisation droht. Doch alles tun und zu lassen, wonach einem der Sinn steht, heißt nicht, jegliche Verantwortung für das eigene Handeln ablegen zu können.

Anna Rollers nach eigener Story inszenierter Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München handelt von einer Gruppe junger Frauen, die an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Die Jugend ist für Ira, Ka und Malin vorbei, der „Ernst des Lebens“ liegt unmittelbar vor ihnen. Bevor es dazu kommt, wollen die Drei mit der Reise durch Italien jene kostbare Chance nutzen, die sich im weiteren Verlauf des Lebens in dieser Form wohl nie mehr bietet: Jene Monate zwischen dem Ende der Schule und dem Beginn des Studiums, in denen alles möglich scheint. Die große Freiheit und Ungezwungenheit.

Wie sehr die elterliche Erwartungshaltung die drei Freundinnen stört und wie nervtötend Sätze wie „Und, wie geht es nach dem Abi weiter?“ sind, bringen Ira, Ka und Malin in einer entwaffnend ehrlichen Szene auf den Punkt. Mit einer Pulle Wodka hängen sie ab, chillen und lästern über gesellschaftlichen Druck, Vorurteile und die Tücken der Adoleszenz. Dem Film kommt zu Gute, dass es sich bei den Darstellerinnen um – weitestgehend – unerfahrene Schauspielerinnen handelt. Denn so erscheinen Katharina Stark (Malin), Noemi Nicolaisen (Ka) und vor allem die fabelhafte Luna Jordan als Ira in ihrem Wirken jederzeit unverstellt und authentisch.

Überhaupt kommt Ira eine besondere Rolle in „Dead Girls Dancing“ zu. Oft ist sie es, die die Kamera in den Blick nimmt. Sie ist die heimliche Hauptfigur und auch jener Charakter, der am feinfühligsten, empathischsten ist. Der schwermütige, gedankenverlorene Blick lässt den Rückschluss dazu, dass Ira mit sich und ihrer sexuellen Identität hadert. Oder sie anzweifelt. Doch spätestens als Zoe die Gruppe komplettiert, das Interesse von Ira auf sich zieht und die große Melancholikerin langsam aufblüht, wird klar: Ira ist in Sachen Selbstsicherheit und Identitätsfindung den anderen eigentlich bereits um Längen voraus.

„Dead Girls Dancing“ ist außerdem ein Film der unterschiedlichen Stimmungen. Mal setzen Roller und ihr toller Kameramann Felix Pflieger auf Entschleunigung und Langatmigkeit. Etwa wenn die Mädels-Truppe nach der Reifenpanne in der Einöde strandet und ausschweifende, ermüdende Telefonate mit dem Pannendienst führen muss. Dann wiederum lässt Roller die vier Freundinnen enthemmt und zügellos über die Stränge schlagen, als sie im menschenleeren Bergdorf eintreffen. Ab hier ist alles möglich: der Einbruch in einen Supermarkt und leerstehende Wohnungen, Party- und Tanzszenen, Besäufnisse in der alten Dorfkirche.

Dass es am Ende mitnichten so befreit und ausgelassen bleiben wird, das zeichnet sich früh ab. Fast über dem ganzen Film liegt eine Aura der unterschwelligen Bedrohung und subtilen Uneindeutigkeit. Im letzten Drittel wird klar, wieso. Bei einigen Erklärungen, die Roller liefert, zum Beispiel für das menschenleere Dorf, hätte man sich vielleicht etwas mehr Mut und Drastik gewünscht. Diese Entscheidungen machen andererseits aber klar, wie stark „Dead Girls Dancing“ dann doch in der realen, wirklichen Welt verortet ist. Und Roller mehr Wert auf Bodenhaftung legt als auf überhöhte Mystik und Rätselhaftigkeit.

 

Björn Schneider