Der flüssige Spiegel

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Sehen und gesehen werden, das ist ein Grundbedürfnis des Menschen, beachtet zu werden ein lebensnotwendiges Moment um zu spüren, wer man ist. Stéphane Batut begleitet in seinem phantastisch-romantischen Spielfilm einen jungen Mann durch Paris, der aus einem bestimmten Grund von den meisten Menschen nicht gesehen wird und jene, die ihn sehen, darum bittet, ihm von ihren Erinnerungen zu erzählen. Die Begegnung mit Agathe scheint auch in ihm etwas zu berühren.

Website: www.filmkinotext.de

OT: Vif-argent
Frankreich 2019
Regie: Stéphane Batut
Darsteller: Thimotée Robart, Judith Chemla, Saadia Bentaïeb, Djolof Mbengue, Marie-José Kilolo Maputu, Cecilia Mangini, Babakar Ba, Bernard Mazzinghi, Frédéric Bonpart, Antoine Chappey und Jacques Nolot
Länge: 104 Minuten
Verleih: FilmKinoText
Kinostart: 9.7.2020

FILMKRITIK:

Als Stéphane Batut im vergangenen November bei den 36. Französischen Filmtagen in Tübingen seinen vornehmlich im 19. Pariser Arrondissement gedrehten Film über seine als Geist durch die Straßen und Parks streifende Figur namens Juste vorstellte, wurde in der anschließenden Diskussion kurz auch ein Vergleich mit Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“ gezogen. Dort entschloss sich ja bekanntlich ein für die Menschen unsichtbarer und in eine Trapezkünstlerin verliebter Engel, seine Unsterblichkeit aufzugeben.

Juste (Thimotée Robart in seiner ersten Filmrolle) scheint von dieser Unsterblichkeit nichts zu wissen, überhaupt scheint er sich anfangs selbst nicht ganz klar darüber zu sein, warum er so ist, wie er ist. Als man ihn nach einem Sturz in ein Krankenhaus einliefert und es zur Feststellung seiner Personalien kommt, hat er keine Erinnerung mehr und wünscht sich, dass alles wieder „normal“ würde. Für ihn hieße das: wieder sichtbar zu werden und nicht mehr wie ein Gespenst auf der Suche nach kürzlich verstorbenen Menschen zu sein, deren letzte Erinnerungen er sammelt und in denen auch er sich plötzlich wiederfindet, was dann durchaus zu abrupten Szenenwechseln führen kann. Eben noch steht er an einer Straßenkreuzung vor einem verbrannten Motorroller, eine Szene später stapft er mit dem Unfallopfer durch eine tiefverschneite Gebirgslandschaft und lässt sich letzte Erinnerungen erzählen.

Juste, in dessen Vornamen die Bedeutung von „(Auf)Richtigkeit“ mitschwingt, ist für viele Menschen eine Art Fährmann vom Dies- ins Jenseits, eine Figur wie in der griechischen Mythologie der Gott Hermes, der bei den Römern mit Merkur gleichgesetzt wurde. In der Chemie kennt man Quecksilber (frz.: mercure) wiederum als „flüssigen Spiegel“, also auch hier ein Element, das eine Verbindung zwischen zwei Welten schafft. Stéphane Batut entschied sich, seiner surreal anmutenden Geschichte durch besondere Lichtsetzungen und Farben Expressivität zu verleihen, insbesondere die Nachtaufnahmen mit den Spiegelungen von Lichtern sind da hervorzuheben. Poesie und Verträumtheit hingegen werden verstärkt über die Filmmusik, mit Passagen aus Debussys „Nocturnes No. 1“ etwa oder Lang Lang, wie er Rachmaninoff am Klavier interpretiert.

Als Zuschauer kommt man mit der Zeit dahinter, wann der Geist für wen sichtbar oder unsichtbar ist, in bestimmten Szenen ist die Unsichtbarkeit aber offensichtlich. Juste muss erst wieder lernen, wie er sich nach seinem anfänglichen Wiedererwachen unter den Menschen bewegen kann und darf, wie er, als er Agathe (Judith Chemla) begegnet und sie ihn für ihre vor einigen Jahren plötzlich verschwundene große Liebe hält, verhalten soll. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Suche nach einer verlorenen Zeit. Ein Kuss gleich bei einem ersten Date ist ihr dann aber doch entschieden zu forsch. Sie für sich als fragile sensible Person will da erst entscheiden, welche Gefühle real und wahr sind.

Manchmal versteigt sich Batut dabei etwas sehr in symbolische Bedeutung und die Darstellung des Romantischen. Interessant ist sein vermeintlich beiläufiger Blick auf Alltägliches, auf Menschen aller Schichten und Hautfarben, die in einer Stadt wie Paris zum Straßenbild gehören – und die dennoch in der Wahrnehmung häufig unsichtbar bleiben wie jener blinde Musikant in der Métro, der dort mit seinem umgeschnallten elektrischen Piano wunderbare arabisch-klingende Lieder zum Besten gibt. Dass dann gegen Ende dieses passionierten Films über ein Phantom ein Auto ohne Fahrer durch die Nacht rollt, hat dann auch weniger mit Fortschrittsglauben und einer Vision von autonomem Fahren zu tun, denn damit, dass ein Traum seine Fortsetzung findet und Beachtung eine Weitung des Herzens bewirkt.

Thomas Volkmann