Der Gymnasiast

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Ein semi-autobiographischer Film, einmal mehr: Wie so oft basiert auch „Der Gymnasiast“, der neue Film von Christophe Honoré, auf Erlebnissen des Autors und Regisseur. Hier ist es besonders der Unfalltod des Vaters, der Honorés Alter Ego, der 17jährige Lucas, aus der Bahn wirft und Ausgangspunkt eines fließenden, einfühlsamen Coming-of-Age-Dramas wird.

Le Lycéen
Frankreich 2022
Regie & Buch: Christophe Honoré
Darsteller: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Erwan Kepoa Falé, Juliette Binoche, Adrien Casse, Pascal Cervo

Länge: 122 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 30. März 2023

FILMKRITIK:

„Lerne, mach was aus deinem Leben“ sagt der Vater noch zu seinem 17jährigen Sohn Lucas (Paul Kircher) als er ihn zu seinem Internat fährt. Am Fuß der Alpen geht Lucas zur Schule, hat mit seinem Jugendfreund Oscar eine Affäre, von der beide ahnen, dass sie nicht ewig halten wird. Wie schnell Lucas aus seiner Unbeschwertheit gerissen wird kommt dennoch als Schock: Mitten in der Nacht steht Quentin (Vincent Lacoste) vor der Tür, Lucas älterer Bruder, ein in Paris lebender Künstler, und überbringt die schreckliche Nachricht: Der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Im Haus der Eltern versammelt sich die Familie, Lucas Mutter Isabelle (Juliette Binoche) versucht zu trösten, doch im ersten Moment ist Lucas seltsam unberührt. Bis die Verzweiflung sich ihre Bahn sucht, er schreit und um sich schlägt. Für ein paar Tage soll er mit nach Paris, auf andere Gedanken kommen, was für Lucas vor allem sexuelle Freiheit, One Night Stands, aber auch ein Blick in ein Leben bedeutet, das ganz anderes als sein Teenagerdasein ist.

Für ein paar Tage lebt und erlebt Lucas die Hauptstadt, geht mit Quentin und dessen Freund Lilio (Erwan Kepoa Falé) aus, doch spätestens als er sich an einen älteren Mann verkaufen will hat Quentin genug und schmeißt seinen Bruder raus.

Zwei Stunden Trauerarbeit, zwei Stunden, in der ein junger Mann mit einem Schicksalsschlag kämpft, mit sich und dem Leben hadert, bis er ein Licht am Ende des Tunnels sieht. Nicht das erste Mal, dass Christophe Honoré von Verlusten, von Tod und Trauer erzählt. Zuletzt hatte der 1960 geborene französische Regisseur in „Sorry Angel“ von den frühen 90er Jahren erzählt, als in Folge von HIV der Tod viel zu häufiger Alltag im Leben eines schwulen Mannes war. Auch das ein semi-autobiographischer Film, ebenso wie „Der Gymnasiast.“ Mit 15 hatte Honoré seinen Vater verloren, sein Alter Ego Lucas ist nun 17, zudem spielt der Film in der Gegenwart, wurde während Covid gedreht, die Präsenz von Masken verrät es. Die Distanz ermöglicht Honoré freier zu erzählen, seine eigenen Erfahrungen künstlerisch zu überhöhen, die Erzählung zu jenem Erzählfluss zu formen, der seine Filme so besonders macht.

Auch wenn von dramatischen Ereignissen erzählt wird, Lucas extreme emotionale Schwankungen durchlebt, die von seiner Jugend noch verstärkt werden, wirkt jeder Moment eingebettet in eine fließende Erzählung. Weder die häufigen Streitereien zwischen Lucas und seinem Bruder, Konflikte mit der Mutter oder andere Momente werden von der Inszenierung überhöht oder überbetont. Sie sind kleine Momente im Leben von Lucas, die kommen, aber auch wieder gehen.

Verstärkt durch die mobile Handkamera von Rémy Chevrin entsteht ein Fluss, ein Sog, wird der Zuschauer Teil des Lebens Lucas, begleitet ihn für zwei Stunden auf seinem Weg, seinen Versuchen, die Trauer zu verarbeiten und zu sich selbst zu finden. Eine gewisse literarische Qualität erreicht „Der Gymnasiast“ dadurch, wirkt nicht wie eine pointierte Geschichte, mit überbetonten Konflikten und einem prägnanten Ende, das eine Lösung dieses oder jenes Problems suggeriert. Vielmehr wie der Ausschnitt aus einem Leben wirkt er, ein Einblick in eine Phase, eine Entwicklungsstufe, die mit dem Ende des Films nicht an ihr Ende gekommen ist, sondern nur für den Zuschauer vorbei ist. So einnehmend ist diese Form der Beobachtung, dass man gerne noch weiterverfolgen würde, wie sich Lucas in dieser Welt zurechtfindet.

 

Michael Meyns