Der vermessene Mensch

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Langsam, sehr langsam wird sich Deutschland seiner Rolle als Kolonialmacht bewusst, auch im Kino. Als ersten, aber hoffentlich nicht letzten Beitrag zum Thema darf man Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ verstehen, der auf sehr vorsichtige Weise versucht, vom Genozid an den Hereros und Namas zu erzählen, dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Deutschland 2023
Regie & Buch: Lars Kraume
Darsteller: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker, Peter Berg, Michael Del Coco

Länge: 116 Minuten
Verleih: StudioCanal
Kinostart: 23. März 2023

FILMKRITIK:

1896 findet vor den Toren Berlins eine große „Völkerschau“ statt, bei der Menschen aus den deutschen Kolonien vorgeführt werden, die Lust am exotischen befriedigt wird. Für den jungen Wissenschaftler Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) ideale Gelegenheit, um mehr über die Hereros und Namas zu erfahren, die Bewohner der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Dank der Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) lernt er die Afrikaner kennen – und erkennt, dass sie gar nicht so anders sind, als die Deutschen, als die Weißen. Eine These, der Hoffmanns Vorgesetzter an der Uni, Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) wenig abgewinnen kann. Ganz im Sinne der Zeit ist von Waldstätten von der Überlegenheit der weißen Rasse überzeugt, was sich angeblich durch vermessen vor allem der Köpfe auch beweisen lässt.

Jahre später ergibt sich für Hoffmann die Gelegenheit nach Afrika zu reisen, als Teil der sogenannten „Schutztruppe“. Zwischen 1904 und 1908 verübt sie einen Völkermord an den Hereros und Namas, bei dem bis zu 60.000 Menschen ums Leben kamen. Und in dessen Zuge tausende Schädel den Weg in die deutschen ethnologischen Museen fanden, wo sie zu weiten Teilen auch heute noch liegen.

Mit seinen Filmen „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das schweigende Klassenzimmer“ hat sich Lars Kraume als Chronist der deutschen Geschichte etabliert, wobei ihn vor allem die dunklen Seiten interessieren. Ein besonders dunkles Kapitel ist nun auch Thema von „Der vermessene Mensch“, allerdings auch ein besonders heikles, was vielleicht erklärt, warum der  Historienfilm so wirkt als würde er auf rohen Eiern laufen.

Allein die Frage, aus welcher Perspektive es für einen weißen Deutschen im Jahre 2023 möglich ist, von einem an Schwarzen verübten Völkermord zu erzählen, ist nicht einfach zu beantworten. Die Perspektive der Opfer einzunehmen erschien Kraume dabei unmöglich, „Der vermessene Mensch“ erzählt daher aus Täterperspektive, will allerdings sein Publikum nicht von Anfang an vor den Kopf stoßen. So wirkt Alexander Hoffmann zunächst wie ein Solitär unter lauter Rassisten, wie ein Visionär, der seiner Zeit weit voraus ist. Die damals beliebte, inzwischen längst als unwissenschaftlich diskreditierte Methode des Vermessens von Köpfen, nutzt dieser Hoffmann daher nicht etwa dazu, die Überlegenheit der weißen Rasse zu beweisen, sondern zum Gegenteil: Er will zeigen, dass die Menschen im Kern gleich sind und vor allem durch ihr Umfeld geformt werden.

Eine sehr moderne Haltung, bei der man sich fragen kann, ob ein Wissenschaftler um 1900 tatsächlich so dachte oder es sich hier nicht doch um Wunschdenken und Projektion handelt. So oder so ist in jedem Moment von „Der vermessene Mensch“ der Wille zu spüren, eine moralisch richtige Haltung einzunehmen, von einem in der deutschen Öffentlichkeit bislang viel zu wenig beachteten Verbrechen zu erzählen. Dieser Ansatz ist aller Ehren wert, die Ausführung bleibt am Ende jedoch allzu schematisch, um auch als Film zu überzeugen. Vor allem als Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen kann Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ überzeugen, das letzte filmische Wort in Sachen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte ist dieser allzu vorsichtige Film nicht.

 

Michael Meyns