Deutschstunde

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1971 wurde der drei Jahre zuvor publizierte Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz als fast vierstündiger ARD-Zweiteiler verfilmt. Christian Schwochow („Bornholmer Straße“) adaptiert den Nachkriegsroman nun in der Hälfte der Laufzeit, ohne dass die Adaption gehetzt wirkt. Der Regisseur inszeniert das Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow mit starken Kinobildern im staatstragenden Tonfall deutscher Literatur- und Historienfilme, wobei der stimmungsvolle Schauplatz an der schleswig-holsteinischen Küste und das hochkarätige Ensemble um Ulrich Noethen, Tobias Moretti und den Newcomer Levi Eisenblätter entscheidend zur intensiven Wirkung beitragen.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Deutschland 2019
Regie: Christian Schwochow
Drehbuch: Heide Schwochow nach dem Roman von Siegfried Lenz
Darsteller/innen: Levi Eisenblätter, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Maria Dragus, Johanna Wokalek, Sonja Richter, Mette Lysdahl, Christian Serritiello, Louis Hofmann
Laufzeit: 125 Min.
Verleih: Wild Bunch
Kinostart: 3. Oktober 2019

FILMKRITIK:

Anfang der 1950er Jahre in der alten Bundesrepublik: Der Jugendliche Siggi Jepsen (auf dieser Zeitebene: Tom Gronau) sitzt in einer Besserungsanstalt. Als er einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ verfassen soll, gibt der junge Mann ein leeres Heft ab, weil ihm zu viel zum Thema einfällt. Dafür kommt Siggi in eine Arrestzelle, wo er in einem langen Bericht seine Kindheit rekapituliert.
 
Im Jahr 1943 lebt der elfjährige Siggi (Levi Eisenblätter) mit seinem Vater Jens Ole (Ulrich Noethen) und der Mutter Gudrun (Sonja Richter) im norddeutschen Kaff Rugbüll. Siggis Bruder Klaas (Louis Hofmann) dient an der Front, ab und zu kommt die ältere Schwester Hilke (Maria Dragus) zu Besuch. Der Vater hat den „nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“ inne, eine Aufgabe, die er ganz im Sinn des nationalsozialistischen Regimes pflichtversessen ausführt. Also belegt der Ordnungshüter den expressionistischen Maler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti) auf Geheiß von oben mit einem Arbeitsverbot, auch wenn er ihn schont seit der Jugend kennt. Siggi, der im Atelier des Malers ein und aus geht, soll das Verbot überwachen. Der Beginn einer mehrjährigen Gewissensqual...
 
Wie der Roman nimmt die Adaption Siggis Perspektive ein, dessen Erinnerungen den Großteil des Films ausmachen. Ohne zu wissen, worum es eigentlich geht, gerät der Junge im Konflikt zwischen Nansen und dem Vater zwischen die Fronten. Während der Maler das Kind aus dem Zwist heraushält, will ihn der Vater auf Linie bringen: „Brauchbare Menschen müssen sich fügen, mein Junge.“
 
Schon die Wortwahl verrät, dass der alte Jepsen seiner Dienstpflicht mit Eifer nachkommt. Dass er und Nansen einst um dieselbe Frau buhlten (Jens Oles heutige Ehefrau), verschärft den Konflikt ebenso wie seine unhinterfragte Systemtreue. Das ihm verliehene Amt macht den Provinzler groß.
 
Inszenatorisch liefert Christian Schwochow sorgfältiges Qualitätskino. Im Wechsel aus halbnahen Einstellungen und Totalen vermisst der Kameramann Frank Lamm, mit dem Schwochow unter anderem auch bei „Paula“ und der Serie „Bad Banks“ zusammengearbeitet hat, die raue Küstenlandschaft. Das Meer, die Möwen, das Schilf und das Watt passen zum existenziellen Konflikt (wie bei „Unter dem Sand“, der vor ähnlicher Kulisse in Dänemark spielt). Der Regisseur weiß um sein starkes Ensemble und erzählt viel mit reinen Bildfolgen. So spricht es Bände, dass das Familienleben der Jepsens hinter zugezogenen Vorhängen stattfindet. Die getragene Erzählweise durchbricht Schwochow nur gezielt, sehr eindrucksvoll etwa bei einem Flugzeugangriff am Nordseestrand.
 
Im Mittelpunkt des Dramas stehen Levi Eisenblätter („Mute“), Ulrich Noethen („Der Untergang“) und Tobias Moretti („Das finstere Tal“) als Sohn, Vater und Maler, während Siggis Geschwister, seine Mutter Gudrun und Max' Lebensgefährtin Ditte (Johanna Wokalek) Nebenfiguren bleiben. Die versierten Charaktermimen Ulrich Noethen und Tobias Moretti liefern sich einen starken Schlagabtausch: Noethen lässt Jens Oles Genugtuung bei der Durchsetzung staatlicher Anweisungen unterschwellig durchblicken, Moretti stellt die Erschütterung über das Malverbot in feinen Schichten dar. Zwischen den Meistern ihres Fachs legt auch der junge Levi Eisenblätter eine einnehmende Performance hin.
 
Bis zuletzt gehorcht der Beamte Jepsen dem Regime, noch für den Volkssturm will er Landsleute rekrutieren. Der Handlanger hat sich zu arg verstrickt, um dem Reich abzuschwören. Eine simple Feststellung des Malers Nansen besiegelt seinen Untergang: „Der Krieg ist aus, Jens.“
 
Christian Horn