Was für ein zauberhafter, wunderschöner Film: eine Zeitreise ins Paris um 1900. Cédric Klapisch („L’auberge espagnole“) überrascht das Publikum aufs Neue mit einer aufwendig gestalteten und sehr spannenden Geschichte, die gleichzeitig im Gestern und im Heute spielt. Dabei geht es eigentlich um eine aktuelle Erbschaft, genauer gesagt um den Nachlass einer vor vielen Jahren verstorbenen Frau, deren Nachkömmlinge durch einen Zufall zusammenkommen und ins Leben ihrer Urgroßmutter eintauchen.
Über den Film
Originaltitel
La Venue de l’avenir
Deutscher Titel
Die Farben der Zeit
Produktionsland
FRA,BEL
Filmdauer
126 min
Produktionsjahr
2025
Regisseur
Klapisch, Cédric
Verleih
STUDIOCANAL GmbH
Starttermin
14.08.2025
Das einsame, kleine Bauerhaus in der Normandie steht schon lange leer. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass es einmal bewohnt war. Nun soll es abgerissen werden, denn das benachbarte Einkaufszentrum wird vergrößert, neue Parkplätze müssen her, und das kleine Haus steht im Weg. Doch eine testamentarische Auflage sieht vor, dass nur die Nachfahren der Eigentümerin das Haus betreten und darüber verfügen dürfen. Die Erben sind per Videokonferenz versammelt, vier von ihnen werden ausgewählt und sollen stellvertretend für alle das alte Haus in Augenschein nehmen, das 1944 verlassen wurde. Als die Vier eintreten, finden sie sich inmitten des Lebens ihrer Urgroßmama Adèle wieder, die als junge Frau nach Paris ging, um ihre Mutter zu finden. Alles ist noch da, wenn auch vom Zahn der Zeit leicht angeknabbert, dazu Unmengen Fotos, Tagebücher, Gemälde, der gesamte Hausrat … und die Vier, eine zusammengewürfelte Gruppe von Leuten, die zwar miteinander verwandt sind, sich aber erst durch dieses Erbe kennengelernt haben, gehen gemeinsam auf Spurensuche und entdecken die Geheimnisse der Vergangenheit: Kaum hat sie sich auf den Weg gemacht, trifft die pfiffige Adèle zwei vielversprechende Künstler, die dasselbe Ziel haben: einen Maler und einen Fotografen, beide sind hübsch und begabt – und sie brennen darauf, in Paris, dem Zentrum der modernen Welt, ihren Weg zu machen. Mit dem Schiff reisen sie von Le Havre die Seine entlang und gelangen schließlich nach Paris – eine trubelige Stadt im Umbruch. Der Eiffelturm wurde gerade eingeweiht und überstrahlt das Seineufer, Sacré Coeur ist immer noch nicht fertig, rund um die Baustelle der Kirche auf dem Montmartre brodelt das Leben, überall ist was los, aus jeder Ecke klingt Musik, und die Windmühle, aus der später das Moulin Rouge werden wird, ist in vollem Betrieb. Adèle und ihre beiden neuen Freunde werden ein Teil dieser Szene, in der sich junge Leute aus ganz Frankreich und jede Menge Künstler tummeln.
Die Stadt der Liebe und der Kunst … hier spielt Paris eine Hauptrolle neben Stars wie Julia Piaton („Es sind die kleinen Dinge“), Suzanne Lindon („Frühling in Paris“), und Vincent Macaigne („Die Bonnards – Malen und lieben“). Suzanne Lindon, die Tochter der beiden Schauspielgrößen Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, spielt Adèle mit sehr viel jugendlichem Esprit als junge Frau, die mitten ins Großstadtleben geworfen wird.
Tatsächlich wurde aus der mit Intelligenz und Witz erdachten Story rund um Paris, Kreativität und Kunst ein im besten Sinne des Wortes aufwendiger Ausstattungsfilm und noch dazu eine echte cineastische Meisterleistung. Das liegt nicht nur an den gelungenen Effekten, der herausragenden Kameraarbeit (Alexis Kavyrchine, „Das Leben – ein Tanz“), an den einfallsreichen Szenenbildern und an den Kostümen, sondern vor allem ist „Die Farben der Zeit“ ein Wunder der Schnitttechnik – die Filmeditorin Anne Sophie Bion, die den Schnitt für „The Artist“ verantwortet und schon mehrfach mit Cédric Klapisch zusammengearbeitet hat, zeigt hier erneut, wie kreativ, sensibel und sorgfältig sie arbeitet. Da wechselt die Zeiten manchmal von einem Bild zum nächsten, eben noch im 19. Jahrhundert, und plötzlich taucht an derselben Stelle ein Fahrradfahrer von heute auf. Immer wieder begegnet die Gegenwart der Vergangenheit. Dabei steht neben Adèles Geheimnissen und dem Rätsel über ihre Herkunft auch vieles andere mit. Ihre Geschichte ist klug eingebettet in teils symbolhafte, teils sehr offensichtliche Vergleiche zwischen damals und heute. Da wird in spielerischer Form die seinerzeit frisch erwachte Konkurrenz zwischen der Malerei und der neuen Kunst der Fotografie angesprochen, während es heute um Fotoshootings und KI geht. Umrahmt wird das Ganze von der Familiengeschichte, die durch Adèle begründet wird und sich heute in den vier Personen widerspiegelt, die in ihr Leben eintauchen. Es sind vier sehr unterschiedliche Menschen: ein nervöser, niedlicher Jungspund, der als Fotograf arbeitet (Abraham Wapler), ein liebenswerter Imker (Vincent Macaigne), die umtriebige Geschäftsfrau Céline (Julia Piaton), die manchmal an die junge Meryl Streep erinnert, und ein Grundschullehrer, gespielt von Zinedine Soualem – zusammen sind sie so etwas wie ein Querschnitt durch die heutige Gesellschaft. Und sie sind eine Familie.
Wie bei einer gleichzeitig märchenhaften, aber doch immer real nachvollziehbaren Schatzsuche zwischen gestern und heute fängt Cédric Klapischs historisches Drama mit viel Witz und Esprit das Flair um 1900 ein – eine Blütezeit der Aufbruchsstimmung, in der die Jugend voller Optimismus war und voll von Glauben an die Technik. Klapisch schafft nicht nur Beziehungen zu heute, sondern er führt eben auch vier Menschen zusammen, die sich immer besser kennenlernen, je länger sie zusammen sind. Gemeinsam kommen sie einer Sensation auf die Spur, denn Adèle hat später alles aufgehoben, was sie an ihre Pariser Zeit erinnert.
Cédric Klapisch erzählt im Grunde eine zeitlose Geschichte, in der sich Vergangenheit und Gegenwart treffen: Denn trotz aller Technik sind die Menschen und ihre Sehnsucht nach Liebe und Familie gleich geblieben. Seine Geschichte erzählt also auch vom Wert der Erinnerung, und das ist oft liebenswert, manchmal rührend, aber immer sehr, sehr schön.
Gaby Sikorski