Die feinen Unterschiede

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Bisher arbeitete die in Frankreich geborene und in Berlin lebende Sylvie Michel vor allem als Assistentin für Regisseure wie Wim Wenders, Mika Kaurismäki und Agnieszka Holland. Jetzt gibt sie ihr Regie-Debüt mit einem leisen Drama, das auf unspektakuläre Weise auf gesellschaftliche Verwerfungen aufmerksam macht. In der Hauptrolle als Arzt, dem langsam Leben und Überzeugungen entgleiten, spielt Wolfram Koch, ein hierzulande viel zu wenig geschätzter Schauspieler.

Webseite: www.neuevisionen.de

Deutschland 2012
Regie: Sylvie Michel
Buch: Razvan Radulescu, Melissa de Raaf, Sylvie Michel
Darsteller: Wolfram Koch, Bettina Stucky, Leonard Bruckmann, Silvia Petkova, Anne Ratte-Polle
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 7. März 2013

PRESSESTIMMEN:

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FILMKRITIK:

Sebastian (Wolfram Koch) ist Spezialist für In-Vitro-Fertilisation. Er verhilft Paaren, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, doch noch zu ihrem Wunschkind. Manchmal zumindest, denn der Prozess bedeutet für die betroffenen Paare großen Druck und führt längst nicht immer zum Erfolg. Dennoch ist Sebastian davon überzeugt, das Richtige zu tun. Ohnehin steht er mit beiden Beinen in einem komfortablen Leben jenseits finanzieller Sorgen. Von seiner Frau lebt er getrennt, kümmert sich aber gemeinsam mit ihr um die Erziehung seines Sohnes im Teenageralter. Die beiden pflegen ein laxes Verhältnis, Sebastian lässt Arthur viel Freiraum. Anders als seine bulgarische Putzfrau Jana (Bettina Stucky), die ihre schon zwanzigjährige Tochter Vera kontrolliert und ihr vorschreibt, wann sie zuhause zu sein hat. Als Arthur und Vera eines Abends mit Freunden ausgehen und am nächsten Morgen nicht zurück sind, gerät Jana in Panik. Und auch Sebastian, der zunächst unwillig auf Janas Alarmismus reagiert, wird bald unruhig.

Sehr behutsam begibt sich Sylvie Michel auf die Spuren eines Mannes, der in Einklang mit seinen Überzeugungen zu leben scheint und sich eine liberale Weltsicht leisten kann. Ein Gutmensch mit teurem Auto und schickem Haus, erfüllt von einem Beruf, der er selbst als sehr wichtig wahrnimmt. Das Drehbuch kontrastiert diese Figur mit der ständig schuftenden Jana, die auch in der Klinik putzt, in der Sebastian arbeitet, und wo sie vom Klinikchef wie eine Dienstbotin behandelt. Ihre Weltsticht unterscheidet sich fundamental von der entspannten Sebastians. Das Glück fliegt einem nicht einfach zu, sondern muss mit Disziplin erkämpft werden. Ihrer Tochter wünscht sie ein besseres Leben, daher ihr Kontrollfimmel.

Auf wunderbar zurückhaltende Weise lässt Michel zwei Lebenswirklichkeiten kollidieren. Sie nutzt dazu einen Konflikt, den sie nicht künstlich dramatisch auflädt. Unspekatkulär entfaltet sich die Geschichte, und dennoch gelingt es ihr, die Glaubenssätze und Unsicherheiten, die tiefliegenden Ressentiments und lediglich politische Korrektheit Sebastians freizulegen. Mit seiner Freundlichkeit Jana gegenüber ist es vorbei, als sie immer drängender nach den Kindern sucht und beginnt, ihm Vorwürfe zu machen. Zunehmend entgleiten Sebastian seine Überzeugungen.

Michel entwirft ein Gesellschaftspanorama, das Fragen der Erziehung wie der Ungleichheit gleichermaßen behandelt. Ihr Film stellt die Frage, welchen Einfluss Lebensverhältnisse auf Einstellungen haben. „In meinem Land war ich selbst Ärztin, jetzt muss ich als Putzfrau arbeiten!“, hält Jana Sebastian entgegen, als der sie immer herablassender behandelt. Dass Michel dabei so vorsichtig zu Werke geht, tut dem Film gut. Andererseits läuft sie Gefahr, ihr Thema durch allzu große Zurückhaltung zu wenig pointieren zu können. Vor allem hätte man ihr mehr Mut gewünscht, die untergründig sich ausbreitende Erosion von Sicherheiten auch auf der Ebene der Bildsprache sichtbarer zu machen. Zu oft bleibt sie in ihrer Kadrage arg konventionell.

Oliver Kaever

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