Mit ihrer ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte „Die jüngste Tochter“ wurde die französische Schauspielerin und Regisseurin Hafsia Herzia in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Sie erzählt von einer jungen Muslima, die in einem Banlieue von Paris aufwächst und langsam entdeckt und akzeptiert, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt.
Über den Film
Originaltitel
La Petite Dernière
Deutscher Titel
Die jüngste Tochter
Produktionsland
FRA,DEU
Filmdauer
106 min
Produktionsjahr
2025
Regisseur
Herzi, Hafsia
Verleih
Alamode Filmdistribution oHG
Starttermin
25.12.2025
Als jüngste von drei Töchtern wächst Fatima (Nadia Melliti) in einem Vorort von Paris auf. Es ist Frühling, das Schuljahr geht langsam zu Ende, Fatima wird ihren Abschluss machen, darauf haben die zwar traditionell muslimisch lebenden, aber doch liberalen Eltern bei allen drei Töchtern geachtet. In der Schule hängt die meist Jogginghosen und ähnliches tragende Fatima lieber mit den Jungs ab, macht sich nichts aus deren Machogehabe, ihren sexistischen Sprüchen.
Fatima selbst hat einen Freund, den sie nur im Geheimen trifft und offenbar eher, weil die Gesellschaft und ihre Religion das von ihr erwarten. Denn eigentlich steht Fatima auf Frauen, eine Erkenntnis, die sie nur langsam zulässt, die im Laufe eines Jahres in ihr wächst, vor allem als sie Ji-Na (Ji-Min Park) kennenlernt. Doch es dauert bis ihre sexuelle Orientierung für Fatima zur Selbstverständlichkeit wird.
Bekannt wurde Regisseurin Hafsia Herzia als Schauspielerin, gleich ihr erster Kinofilm brachte sie mit Abdellatif Kechiche zusammen, in dessen „Couscous mit Fisch“ sie die Hauptrolle spielte. Einer der ersten wirklich erfolgreichen französischen Regisseure mit Herkunft aus dem Maghreb ist Kechiche, bzw. war, denn seine Karriere scheint nach vielfachen Vorwürfen, er habe seine Darstellerinnen zu sexuell sehr freizügigen Szenen gedrängt, vor allem bei „Blau ist eine weiße Farbe“, für den er die Goldene Palme erhielt, ins Stottern geraten.
Man darf nun davon ausgehen, dass sich Herzia für ihren eigenen Film grundsätzlich von einem Vorreiter für einen authentischen Blick in die Welt von Franzosen mit Migrationshintergrund wie Kechiche beeinflussen und inspirieren ließ. Gerade in seiner epischen Form, die fünf Jahreszeiten umfasst, vor allem aber in seiner Darstellung einer lesbischen Coming-of-Age Geschichte erinnert „Die jüngste Tochter“ unweigerlich an „Blau ist eine weiße Farbe“, ein Vergleich, den er in mancherlei Hinsicht verliert, in anderen aber auf interessante Weise gewinnt.
In kaum 100 Minuten erzählt sie in fünf Kapiteln von einem Frühjahr bis zum nächsten, was zu manch allzu schnellen Entwicklungen führt, die eher den Notwendigkeiten des Drehbuchs geschuldet scheinen, als organisch zu entstehen. Gleich zu Beginn wird Fatima etwa in der Schule von einem schwulen Mitschüler als Lesbe bezeichnet, ein Vorwurf oder eine Feststellung, die sie dazu verleitet, den Mitschüler zu verprügeln. Doch dieser Moment scheint Initialzündung dafür zu sein, sich einzugestehen, was sie ist und wen sie liebt. Immer wieder gibt es solche abrupten Momente, bleiben Nebenfiguren unterentwickelt, verhindern die epische Erzählweise, wie sie Kechiche so meisterlich beherrscht.
Was Herzia Kechiche allerdings voraus hat ist ihr weiblicher Blick, der zu einer viel sensibleren Darstellung weiblicher Sexualität führt, als man es bei Kechiche jemals gesehen hat. Wirken dort die ausgiebigen Sexszenen oft fast pornografisch, verzichtet Herzia fast vollständig auf Nacktheit, ohne aber deswegen Fatimas auch sinnliches Erwachen nicht mitreißend zu zeigen. Es sind vor allem Szenen auf Partys oder in Clubs, Bewegungen, Berührungen, die andeuten, wie sich Fatima langsam verändert, wie sie aus ihrer aufgesetzten harten Schale ausbricht und ihr Verlangen zulässt.
Besonders ungewöhnlich an Hafsia Herzias erzählerischem Ansatz ist jedoch das praktisch vollständige Fehlen äußerer Hindernisse. Ständig erwartet der Zuschauer, dass Fatima Probleme mit ihren Eltern bekommt, dass ihre Umgebung negativ auf ihre sexuelle Entwicklung reagiert. Doch nichts dergleichen passiert, stattdessen liegen die Hindernisse, die Fatima im Lauf des Films überwinden muss, in ihr selbst, in der Frage, ob sie den Mut findet, so zu sein, wie sie sein will.
Nicht zuletzt dank der überzeugenden Hauptdarstellerin Nadia Melliti gelingt dieser Ansatz und lässt „Die jüngste Tochter“ zu einer sehenswerten Variation über die Themen Coming-of-Age-Story und Aufwachsen in den Banlieues werden.
Michael Meyns