Gerne schaut man sich Julia Charakters „Die Kinder aus Korntal“ nicht an, die Berichte über Missbrauch, der in den Kinderheimen der evangelischen Brüdergemeinde Korntal stattfand, sind schwer zu ertragen. Gerade darin liegt jedoch die Qualität eines Dokumentarfilms, der sich filmisch betont zurückhält und keine Wertung vorgibt: Was auch gar nicht nötig ist, denn die Berichte der Opfer sind ebenso erschütternd wie die Ignoranz der heutigen Gemeindeleitung
Die Kinder aus Korntal
Deutschland 2024
Regie: Julia Charakter
Dokumentarfilm
Länge: 90 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 26. September 2024
FILMKRITIK:
„Rotkelchen-Gruppe“, „Schwalben-Gruppe“. So lieblich sich diese Namen anhören, so furchtbar muss die Realität für die Kinder gewesen sein, die in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde in der Kleinstadt Korntal in Baden-Württemberg lebten. Schläge, Erniedrigungen, Ausbeutung und sexueller Missbrauch waren über Jahrzehnte an der Tagesordnung und wurden erst in den letzten zehn Jahren aufgedeckt und verarbeitet – zumindest ein bisschen.
2013 ging mit Detlev Zander ein ehemaliges Heimkind an die Öffentlichkeit, wagte es nach Jahren des Schweigens, von den Qualen zu berichten, die er erlitt, seit er als Waisenkind in das Kinderheim kam, wo er eigentlich christliche Nächstenliebe und Fürsorge erfahren sollte. Doch die Realität in den Heimen sag anders aus, wie Zander und fünf andere Überlebende in Julia Charakters Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“ berichten.
Im Nachhinein fast harmlos beginnen die Berichte, von Zucht und Ordnung ist die Rede, doch das die Kinder Nachts nicht auf die Toilette dürfen, sich zwischen Bettnässen – für das es Schläge gibt – oder Urinieren in Gefäße – für das es ebenfalls Schläge gibt – entscheiden müssen, erweist sich bald als winzige Spitze des Eisberges.
Schläge gab es offenbar ohnehin bei jeder Gelegenheit, statt einer Gute-Nacht-Geschichte gab es Prügel, berichtet ein ehemaliges Heimkind. Tagsüber mussten sie den Leitern des Heims oft bei der Renovierung von Privathäusern helfen und schwere Arbeit verrichten. Und dann der sexuelle Missbrauch: Der Hausmeister verging sich offenbar regelmäßig an den Kindern, aber auch Menschen aus der Kleinstadt Korntal, die als Paten der Heimkinder agierten, diese Funktion aber ausnutzen und Kinder missbrauchten.
Als wären die Berichte der ehemaligen Heimkinder nicht schon furchtbar genug, erweitert Julia Charakter im Verlauf ihres Films den Blick und zeigt, was die Brüdergemeinde unter Aufklärung versteht. Besonders ein Pfarrer ragt hier heraus, der anfangs noch das richtige sagt, von notwendiger Aufarbeitung spricht, von schweren Fehlern, die einst gemacht wurden, dann aber schon verdächtig schnell von Vergebung spricht. Wobei bezeichnenderweise unklar bleibt, ob er von Vergebung durch die Opfer spricht oder er sich und seiner Kirche praktischerweise einfach selbst vergibt und Absolution erteilt.
Haarsträubend wird es allerdings dann, wenn der Pfarrer die winzigen Entschädigungszahlen an die Opfer damit zu begründen scheint, dass diese aus sozial schwachen Verhältnissen stammten und somit ja ohnehin wenig Chancen im Leben hatten. Einmal mehr zeigt sich hier auf frappierende Weise, wie schwer sich die Kirche immer wieder tut, begangenes Unrecht zu sühnen. Dass es angesichts der lang zurückliegenden Taten keine Beweise außer den Aussagen der Opfer gibt, die Täter oft auch schon verstorben sind, dient da gerne als willkommene Möglichkeit, sich aus der Affäre zu ziehen und einen Schlussstrich zu fordern. So wie es auch ein älteres Ehepaar aus der Kleinstadt tut. Ob dieses tatsächlich für die Mehrheit der Bewohner spricht kann man nur ahnen, sie fühlen sich jedoch augenscheinlich als Sprachrohr der Gemeinde wenn sie fordern, dass es jetzt langsam aber doch mal gut ist mit diesem anstrengenden Thema sexueller Missbrauch.
Geschickt erweitert Julia Charakter im Verlauf des Films den Blick, angefangen mit den persönlichen Berichten der Opfer, hin zum Versagen der Kirche, aber auch der Ignoranz der Bewohner einer Kleinstadt, vor deren Augen sich Schreckliches zutrug. In allen Einzelheiten wusste man zwar sicher nicht, was in den Kinderheimen passierte, aber eine Ahnung konnte man haben. Dass man hier unweigerlich auch an die deutsche Nachkriegsgeschichte denken muss erzählt viel über gesellschaftliche Strukturen und ihre Bewohner, die Unrecht zwar oft nicht selber ausüben, aber durch gezieltes Wegschauen erst ermöglichen.
Michael Meyns